Bindungsorientierte Erziehung

Attachment Parenting: Kinderbedürfnisse an erster Stelle

Tragetuch, Windelfrei-Konzept, Langzeitstillen, Familienbett: Ganz auf seine Bedürfnisse einzugehen, soll unser Kind wunschlos glücklich machen. Kann das funktionieren? Und wo bleiben die Bedürfnisse der Mütter und Väter?

Autor: Gabriele Möller

Bröckelnde Bindungen wieder festigen

Papa kuschelt mit Baby

Ein Papa kuschelt mit seinem Baby

Foto: © iStock, AleksandarNakic

Die Mutter geht mit ihrem Kleinkind durch den Zoo. „Guck mal Mama, der Affe frisst Paprika!" Geistesabwesend murmelt die Mutter: „Toll!", während sie weiter am Handy daddelt, ohne aufzusehen. Szenenwechsel: Das Kleinkind klettert jede Nacht ins Elternbett, denn es hat Angst, allein und abseits von Mama und Papa in seinem Zimmer zu schlafen. Seine Eltern tragen es aber immer wieder zurück.

Solche alltäglichen Szenen sind für manche Forscher ein Zeichen dafür, dass die Bindung zwischen Eltern und Kindern zunehmend bröckelt. Sie sagen: Nicht wenige Eltern stellen eigene Bedürfnisse zu oft über die des Kindes, verstehen die kindlichen Signale nicht mehr oder halten es für „ Verwöhnung", auf sie einzugehen. Viele moderne Gewohnheiten seien weit weg von dem, was die Natur für Menschenkinder vorsehe. Dieser Entwicklung setzt der amerikanische Kinderarzt und achtfache Vater William S. Sears die Idee des „Attachment Parenting" (wörtl.: Bindungs-Erziehung) entgegen: Hier gehen die Eltern auf die Signale und die Bedürfnises ihres Kindes feinfühlig ein.

Eine Kindheit ohne Konflikte?

Sears empfiehlt dabei den Blick auf die Naturvölker: Auch wir sollten unser Baby so lange im Tragetuch tragen, wie es will, sollten so lange stillen, bis unser Kleinkind sich selbst abstillt und das Kind mit uns im Bett schlafen lassen. Auch die Konzepte „Windelfrei“ (bei bestimmten Signalen des Babys hält die Mutter es über ein Gefäß) und „Unerzogen“ (Verzicht auf Erziehung, freiwillige Kooperation des Kindes) gehören zum Attachment Parenting. Schimpfen oder Konsequenzen sind verpönt, denn sie seien nur der Ausdruck einer gestörten Kommunikation zwischen Eltern und Kind, sagt Sears. Ein Kind, das seinen Eltern vertraue, sei kooperativ und sträube sich nicht dagegen, dass die Eltern sein Verhalten leiten.

 Die Idee klingt bestechend: Ein sicher gebundenes, immer glückliches und stets kooperatives Kind, bei dem „schon ein Stirnrunzeln der Eltern reicht, um es zu disziplinieren“, wie Sears sagt. Aber ist das realistisch? Und was ist eigentlich mit den Eltern – ist es gesund für sie und ihre Beziehung zum Kind, wenn sie ihre eigenen Bedürfnisse stark zurücknehmen müssen, weil sie 24 Stunden am Tag „Bereitschaftsdienst“ für den Nachwuchs haben?

Viel Geborgenheit macht selbstsicher

 Tatsächlich ist für unser Kind vom ersten Tag an eine sichere Bindung entscheidend für die gesunde Entwicklung. Ein Baby, das nie ungehört schreien musste, ein Kleinkind, das ohne nächtliche Ängste im Familienbett schlafen durfte, kann emotional stabiler und besser geschützt gegen Ängste sein. Die große Geborgenheit verweichlicht Kinder auch nicht, wie manche Eltern glauben. Im Gegenteil, sie macht sie mutiger: "Je fester die Bindung des Kindes zur Bezugsperson ist, desto stärker fällt sein Wille zum Forschen und Experimentieren aus", sagt der Münchner Pädagoge und Bindungsforscher Michael Schnabel in einem Interview.

Attachment Parenting vermeidet viele „Kämpfe“ mit dem Kind

Wer das AP anwendet, macht eine weitere schöne Entdeckung: Es vermeidet viele unnötige „Kämpfe“, die andere Eltern für normal halten. Denn das Kind stillt sich selbst ab, anstatt wochenlang nach der Brust zu weinen. Es geht von sich aus aufs Töpfchen, sobald es von seiner Hirnreife her soweit ist, braucht also keinerlei „Töpfchentraining“. Es lässt die gefürchtete „ Trotzphase“ weitgehend aus, weil es viel mithelfen, selbst tun und mitentscheiden darf.

In anderen Bereichen aber gibt es trotzdem oft noch Reibungspunkte - wenn der Nachwuchs zum Beispiel abends auch aus dem Familienbett immer wieder aufsteht und im Wohnzimmer erscheint. Hier reicht erfahrungsgemäß kein „Stirnrunzeln“, um das Kind ohne Protest wieder ins Bett zu bugsieren. 

Der Mythos von der perfekten Erziehung kann belasten

Gelassene Eltern haben daher kein Problem damit, das AP flexibel einzusetzen. Sie setzen sich auch einmal durch, muten dem Kind ein „Nein!“ oder eine kleine Wartezeit zu, um ihre eigenen Bedürfnisse nicht komplett aufgeben zu müssen. Doch vor allem wir Mütter sind leider oft alles andere als gelassen. Gern pflegen wir den Mythos von der Perfektion: Wir glauben, nur wenn wir alles richtig machen, habe unser Kind überhaupt eine Chance, seelisch unbeschadet aufzuwachsen.

Wenn es aber dann im Alltag hakt, fragen wir uns reflexhaft: Was habe ich falsch gemacht? Und auch die Umgebung suggeriert nur zu gern, dass mit uns etwas nicht stimmen kann, wenn unser Kind Probleme macht. „Attachment Parenting-Mütter glauben, dass man bei einem Kind nur die richtigen Knöpfe drücken muss, und es wird ein zufriedenes, gesundes, freundliches, unerschrockenes, kooperatives Baby und Kleinkind sein“, erklärt Nicola Schmidt, urbia-Expertin und Gründerin des Projekts artgerecht. Und wenn dies nicht funktioniere, dann liege es natürlich nicht an der Veranlagung des Kindes. Sondern es heiße: „Wenn du es nicht schaffst, ein perfektes Kind großzuziehen, dann hast du dich nicht ausreichend angestrengt, Schätzchen!“

Bleibt alles an der Mutter hängen, droht der Burnout

Diese Überforderung aber kann sogar zum Burnout führen. „Wir Menschen sind einfach nicht dafür gemacht, ganz alleine ein Baby rund um die Uhr zu betreuen", sagt Nicola Schmidt mit Blick auf die heutige Kleinfamilie. Der enge Umgang der Naturvölker mit ihren Kindern kann uns also nur bedingt zur Orientierung dienen. Denn während bei ihnen die ganze Großfamilie und die Nachbarn ein Kind mit erziehen, gilt in unserer Welt oft eher: Mama allein zu Haus'.

Bedürfnisse des Kindes achten – aber auch die eigenen!

Wenn du das AP praktizieren möchtest, helfen dir zwei Dinge, damit es eine Erfolgsgeschichte wird: Zum einen das Wissen, dass Kinder viel mehr sind als nur das Produkt unserer Erziehung. Wir Eltern überschätzen unseren Einfluss, wenn wir glauben, wir können ein glückliches Kind „machen“. „ Kinder bringen auch etwas mit! Jedes Kind ist unterschiedlich - was beim einen Kind funktioniert, muss beim anderen nicht denselben Erfolg haben", betont die Pädagogik-Professorin Sabine Michalek aus Berlin.

Zum anderen solltest du das Konzept als Anregung sehen, nicht als Dogma. Nimm dir zum Beispiel vor, dein Baby nicht schreien zu lassen, sondern es immer aufzunehmen. Finde in anderen Bereichen ruhig Kompromisse: Dein Kind will noch an die Brust, aber du wünschst dir wieder mehr Unabhängigkeit von den Stillzeiten? Dann praktiziere das sanfte Abstillen. Du bekommst Rückenschmerzen von der Babytrage? Dann benutze einen Kinderwagen! Du möchtest auch mal allein auf die Toilette gehen? Dein Kind nimmt keinen Schaden, wenn es einige Momente warten muss.

„Was zählt, ist, was der Familie gut tut", betont auch Nicola Schmidt. Bei ihren Kindern habe das Attachment Parenting nicht zuletzt deshalb funktioniert, weil sie sich „die Frechheit erlaubt habe, das Konzept an uns anzupassen, und nicht umgekehrt!“

Zum Weiterlesen

William und Martha Sears: „Das Attachment Parenting Buch: Babys pflegen und verstehen", tologo Verlag 2012, ISBN-13: 978-3940596284.

Nicola Schmidt: „artgerecht - Das andere Baby-Buch: Natürliche Bedürfnisse stillen. Gesunde Entwicklung fördern. Naturnah erziehen", Kösel 2015, ISBN-13: 978-3466346059.