Ändert eine Diagnose etwas? (ADHS, Autismus)

Ich habe gerade mit meinem Mann eine Grunsatzdiskussion geführt und wir kommen nicht weiter, weshalb ich mir hier Meinungen erhoffe, vielleicht sogar Erfahrungen.
Wir haben in der Familie ein 9-jähriges Kind, dass uns sehr nahe steht. Leider "terrorisiert" dieses Kind seit Jahren die Familie (bei Treffen). Immer wenn ihm etwas nicht passt (z.B. Spielauswahl, Weg, Zeit) oder er z.B. im Spiel angerempelt wird von einem anderen Kind, kommt es zu heftigsten Ausrastern. Er brüllt, ist extrem aggressiv gegen Mensch & Möbel. Nach 10-60 Minuten ist der Spuk vorbei, dann geht es "normal" weiter. In der Schule und im Verein das gleiche Spiel.
Die Eltern tun seit Jahren nichts. Ach der arme Junge, wird immer nur missverstanden, Diagnostik jeder Art könnten sie ihm nicht zumuten.

Wir haben inzwischen den Verdacht, dass es in Richtung ADHS oder Autismus geht. Ich kenne mich da nicht gut aus, entschuldigt, wenn ich Begriffe falsch verwende. Allerdings geht es mir gar nicht um die Diagnose, sondern ob die Diagnose etwas ändern würde.
Mein Mann meint nein, denn er meint, dass nach der Diagnose keine Handlung folgen wird. Das glaube ich zwar auch, habe aber das Gefühl, dass man vielleicht trotzdem mehr Nachsicht hätte, Situationen für sich erklären könnte, vielleicht sogar besser vermeiden könnte (obwohl wir schon viel probiert haben). Das man toleranter wäre im Sinne von: Das Kind kann nichts dafür, die Eltern auch nicht...

Ich bedanke mich im Voraus für Antworten.

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Naja aber vielleicht ändert sich doch etwas.
Je nachdem was es ist, ob es überhaupt etwas ist und man gezielt Therapie bekommt, kann sich das Verhalten evtl doch ändern.
Ich glaube, ich wäre tatsächlich etwas nachsichtiger, denn dann käme es tatsächlich in Frage, wie gesagt, je nachdem, was es eben ist, dass das Kind das alles gar nicht mit Absicht macht oder "nur" eine schlechte Erziehung genossen hat

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Na klasse, Danke Urbia, wieder ne Antwort für den Popo, weil verschoben wird.

Also natürlich ändert eine Diagnose was! Sie ist der erste Schritt, dass die Eltern vielleicht einsehen, dass sie was machen müssen. Und wenn nicht, kann das Kind, wenn es mündig und verständig genug ist, zur Not selber die notwendigen Schritte einleiten. Wenn es "durchsickert" kann auch die Schule versuchen, Einfluss zu nehmen, ihr hättet mehr Argumente, ...

Und natürlich können die Eltern auch bei einem ADHSler oder Autisten was dafür, dass das Kind so extrem ist, wenn sie ihm keine Hilfe geben!
Gerade diese Kinder brauchen viel Anleitung, Förderung, Therapie und gegebenfalls Medikation, um besser im Alltag klarzukommen, und dann merkt man auch deutlich Fortschritte. Klar ist eine neurodiverse Person immer "anders", aber doch nicht so! Ein ADHSler will ja nicht so sein wie er ist, in den Momenten fehlt ihm schlicht die Impulskontrolle durch fehlende Neurotransmitter, um das zu tun, was er eigentlich will! Und die kann man zum Teil durch Medikation ersetzen, und zudem durch Verhaltenstrainings üben, solche Situationen besser zu meistern!

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Eine Diagnose ist jetzt keine Entschuldigung für jedes Verhalten, aber zumindest gibt’s teilweise mehr Verständnis…

Wichtig ist, dass das Kind richtig gefördert wird und lernt sich zu kontrollieren…

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Ich könnte mir gut vorstellen, das es Autismus sein könnte. ADHS oder Hochsensibilität ist in kombi ja auch nicht unüblich.
Eine Diagnose kann aufjedenfall was ändern. Bei dem gesamten Prozess sind die Eltern ja auch beteiligt und lernen, was autistisch sein bedeutet. Ob sich etwas bei ihnen ändern würde, kann man nicht sagen, aber allein für die Schule wäre es hilfreich, das die Lehrer den Eltern evtl klar machen, das er eine spezielle Förderung benötigt. Wobei eine spezielle Schule in der Situation angebracht wäre. Dort kann er die Förderung bekommen, die er braucht.
Die Aussage "das Kind kann nichts dafür, die Eltern auch nicht" finde ich nicht gut. Damit wird die Situation ja auch nicht besser. Die andere Person sollte sich ja auch wohlfühlen können.
Natürlich können sie nicht direkt was dafür, aber die Eltern haben von klein an einfach zugeschaut. Es ist wichtig, das sie lernen, was ihm hilft, um in angespannten Situationen besser zu reagieren. Zb in einen gesonderten Raum zu gehen, um sich zu beruhigen.
Er benötigt aufjedenfall eine spezielle Therapie. Autistisch zu sein ist extrem anstrengend und auch wenn die Therapie nicht angenehm ist, ist sie dennoch wichtig. Ihm macht es ja auch keinen Spass auszurasten.
Wenn die Eltern sich nicht dafür interessieren, würde ich zum jugendamt gehen. Die können in solchen Situationen sehr gut unterstützen.
Ich selber bin autistisch und meine Eltern und ich haben nach der Verdachtsdiagnose meiner Therapeutin die weitere Hilfe während die Diagnostik gemacht wurde dort bekommen. Sie bieten Hilfe an, geben neue Lösungsansätze und helfen bei den Anträgen.
Auch wenn es kein Autismus ist, braucht er definitiv Unterstützung. Je früher desto besser.
Es geht ihm mit der Situation ja auch nicht gut.

Bearbeitet von Kleinemaus2024
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Îm beschriebenen Fall ist die Frage ob eine Diagnose etwas ändern würde rein rhetorisch. Denn die Eltern verschliessen ihre Augen vor der Situation. Reden das Verhalten schön und sehen keine Notwendigkeit zur Diagnostik. Du wirst sie nicht zwingen können, ihre Meinung nicht ändern können. Allfällige Konsequenzen werden sie bzw. das Kind zu tragen haben.
In solchen Fällen betreibe ich persönliche Schadensbegrenzung (nachdem ich zumindest versucht habe den Eltern mögliche Wege aufzuzeigen, Vor- und Nachteile von Diagnostik und Therapie benannt habe), das heisst ich distanziere mich, schütze mich und meine Kinder vor derartigen Eskalationen, und stehe NICHT zur Verfügung wenn der Sprössling 18 oder 20 Jahre alt ist und das wacklige "Lebenskonstrukt" in sich zusammen fällt und den Eltern um die Ohren fliegt. (Ja, das Kind tut mir leid, aber ich kann nun mal nicht jeden retten...)

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Ganz klar: JA!

Ein Mensch mit einer seelischen Behinderung ist nicht dumm, man muss ihn aber anders erziehen, mit ihm anders umgehen und ihn anders behandeln als ein gesundes Kind.
Hat das Kind eine Diagnose, erhalten die Eltern, Lehrer und Betreuer jahrelang fachliche Unterstützung und Beratung im täglichen Umgang mit dem Kind. Ggf. (je nach Diagnose) sind auch Medikamente möglich. Zusätzlich kann das Kind noch therapeutisch behandelt werden - bei Autismus ist ganz wichtig die quasi durchgehende Autismustherapie (hier ist ein ordentlicher Therapieansatz wichtig, Autismustherapie muss nicht unangenehm sein), ggf. Logopädie und Ergotherapie; bei ADHS wäre das eher Ergotherapie.

Außerdem: Eine Behinderung ist NIEMALS eine Entschuldigung für schlechtes Benehmen!
Meine Kinder sind diagnostizierte Autisten, ich weiß wovon ich rede. Nur dann ist eben gerade in den ersten Lebensjahren die Aufgabe der Eltern, Dritte vor dem Kind zu schützen. Das Kind ist jetzt „nur“ 9 Jahre - mein Ältester wird in 2 Monaten 18 Jahre und ich gehe ihm bis unter seine Schultern. Was glaubst du, was er mit mir anstellen würde, wenn ich ihn NICHT erzogen hätte? Weißt du wieviel Kraft der Junge hat? Und tatsächlich…aufgrund der autismusbedingten taktilen Wahrnehmungsstörung spürt er das gar nicht, wenn er jemanden z.B. viel zu stark umarmt. Dabei will er nur nett sein. Anderen bricht er die Rippen dabei. Er musste das in den letzten 18 Jahren alles lernen. All das ist Teil der Autismustherapie. Dort lernt man z.B. auch, dass man den Postboten nicht umarmt.

Autismusdiagnostik ist in allererster Linie ein Fragebogen für die Eltern. Da wird vom Kind noch nichts verlangt. Erst wenn das auffällig ist, bekommen die Lehrer noch einen Fragebogen und Eltern müssen extrem viele Fragen zum Kind beantworten. Zeitgleich geht das Kind zum ADOS. Der Test ist nicht so lang, eigentlich ca. eine Stunde. Gibt es noch keine richtige Aussage dazu, wird eventuell noch ein IQ-Test gemacht. Wenn das Kind jedoch in der Regelschule gut mitkommt und gute Noten erzielt, muss der vielleicht nicht gemacht werden. Das ADOS selbst ist mehr spielen als alles andere. Sagt man dem Kind nicht, dass es ein Test ist, ist es spielen.

Ein Kind mit „nur“ einer seelischen Behinderung ohne weitere Behinderungen kann mit der richtigen Therapie und der richtigen Erziehung schon ab dem frühstmöglichen Zeitpunkt ein ganz normales Leben als Erwachsener führen. Ein Erwachsener der das nie gelernt hat, wird immer eine Gefahr für seine Mitmenschen darstellen und immer auf Personen angewiesen sein müssen, die Dritte vor ihm schützen. Kein Mensch möchte so jemanden im Straßenverkehr begegnen oder als Kollege im Unternehmen haben…oder? So richtig selbstständig ist man als undiagnostizierter, unbehandelter, aber definitiv verhaltensauffälliger Mensch also nicht. Ich darf dir auch sagen, dass die Pubertät noch so einige zusätzliche Schwierigkeiten mit sich bringt.

Bearbeitet von kati543
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Hey!

Meine Diagnose hat für mich eine Menge geändert. Zum einen konnte ich eine ordentliche Diagnostik beginnen und zum anderen wusste ich, wieso ich anders bin.

Die Beispiele finde ich nun zu wenig, um dazu etwas zu sagen.

Liebe Grüße
Schoko

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Hallo,

Ja, die Diagnose bringt etwas. Zunächst den Eltern, denn sie wissen dann dass es nicht an ihrer Erziehung liegt, man fragt sich ja immer was man falsch macht. Bei uns war es so, nachdem ich die Diagnose wusste habe ich mich dazu belesen und geschult und habe meine Erziehung komplett umgekrempelt und meinem Kind angepasst. Danach wurden die Ausraster von mehreren am Tag auf 1-2 im Monat reduziert. Das Verhalten des Kindes hängt an dem der Eltern.
Mit Diagnose bekommt man Hilfe, sei es finanziell (Grad der Behinderung und Pflegegrad) oder therapeutisch. Und man kann es dem Umfeld erklären. Das Kind bekommt Hilfe in Form von Schulbegleitung usw.

Also ja, ich rate immer zur Diagnostik.

LG
Sunny

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Natürlich ändert eine Diagnose etwas, wenn die Eltern aber auch dann etwas unternehmen.
Ich hab einen Sohn (8) mit ADS und evtl. Asperger-Syndrom (autistische Züge). Nach der Einschulung wurde das auffällig. Er hat in der Schule nicht mitgemacht, nur zugehört. Er hat abends Wutanfälle bekommen und diese an mir mit "Gewalt" ausgelassen. Er war in sich versunken wenn man ihn ansprach ...
Wir waren beim Kinderpsychologen und haben mit ihm Verhaltenstherapie begonnen. Wir haben ihm zum Abreagieren einen Boxsack ins Zimmer gestellt. Er ist in der Ergotherapie. Wir haben jetzt Familienhilfe, wir können über alles offen reden, wie wir fühlen, wie es uns damit geht, wie wir anders handeln können in bestimmten Situationen, sie reden mit unserem Sohn, ... Das hat uns alles schon sehr geholfen. Es ist schon viel harmonischer geworden in unserer Familie. Und wir erleben nur noch sehr selten Wutanfälle.
ABER: Wenn die Eltern nichts machen, dann leidet das Kind und die Familie.