Erinnerungen

Du bist 26 Jahre alt, in diesem Sommer, in dem bei uns auf der Terrasse sitzt und den kleinen Jungen einer gemeinsamen Freundin in den Armen wiegst. Du sagst: "Erst heiraten, dann Kinder. Mehrere am Besten". Mein Bruder winkt ab, aber du lachst nur. Wir wissen beide, er meint es nicht ernst. Mit dir wär er diesen Weg gegangen.

Der nächste Sommer kommt und sitzt du wieder auf der Terrasse. Man hat dir nach der Krebs-Diagnose die Gebärmutter entfernt. Ich frage dich wie es dir damit geht. Du sagst: "Überleben ist wichtiger".

Zwei Monate später liegst du im Krankenhaus in der Frauenklinik. Dein Bauch wölbt sich als wärst du schwanger mit dem Krebs. Der Arzt sagt es gibt keine Hoffnung. Ich denke "dann passiert halt ein Wunder, du wirst schon wieder gesund". Daran halte ich fest, bis es nichts mehr gibt woran ich mich festhalten kann.

Mein Bruder beginnt Erinnerungen zu horten. Fülllt mit seiner kleinen Schrift Blatt um Blatt mit all den Worten die du zu ihm sagst und manchmal auch mit denen die ihr beide nicht ausprecht. Ein ganzer Stapel Papier. Es ist als lebt er fortan in einem Tunnel welcher nur noch den Blick auf dich freigibt. Und je schwächer du wirst desto dunkler wird es um ihn. Ich fürchte mich davor was mit ihm passiert wenn dein Licht ganz weg ist.

Deine Haare sind jetzt kurz geschnitten. Das steht dir. Sieht frech aus. Die Krankenschwestern verabschieden sich. Auch sie haben Tränen in den Augen. Meine Mutter sagt derjenige der gehen muss hat es einfacher als die, die bleiben. Damals dachte ich an meinen Bruder, wie er in diesem Zimmer steht und trotz all der Leute um ihn herum der einsamste Mensch der Welt ist. Und ich stimmte meiner Mutter zu. Heute glaube ich das nicht mehr. Ich frage mich wieviel Angst du vor uns verborgen hast während du deine Beerdigung plantest und mein Herz wiegt schwer.

Es ist kurz vor Weihnachten und du atmest kurz und schnell. Ich streichle deine Hand, finde nicht die richtigen Worte. Sage etwas belangloses zum Abschied.

Und dann. Stirbst du.

Vor dem Zimmer nebenan steht freudenstrahlend eine kleine Besucherschar mit Ballons in der Hand. Blau. Für einen kleinen Jungen. Du bist gegangen, er ist gerade erst angekommen. Als hättet ihr euch zum Leben abgelöst.

1

sorry etwas sinnlos der Post. Ich hatte gestern meinem Kleinen beim Tragen durch die Wohnung Fotos " gezeigt " und von den Leuten darauf erzählt. Da kamen gerade so viele Erinnerungen hoch.

Wenns nicht passt kann es gelöscht werden.

2

Natürlich passt das. Deine Worte haben mich sehr berührt. Ein Mensch kommt und einer geht. Diese Dinge berühren uns ganz existenziell..und insbesondere dann, wenn jemand, der uns ganz nahe steht unsere menschliche Welt verlässt. Danke dir.

3

Hallo du.

Ich weine mit dir.

Natürlich passen deine Erinnerungen hier her!

Deine Worte berühren mich zutiefst.

Meine eigene Mutter ist an Krebs gestorben und vor zwei Jahren ist die Lebensgefährtin meines Cousins an Krebs gestorben, mit Ende 20.

Ich glaube, jeder der schon mal einen geliebten Menschen verloren hat, kennt dieses überwältigt werden von Erinnerungen.

Lg waldfee

4

Danke euch für die lieben Worte

5

Du bist eine tolle Schwägerin. Wunderschöne Worte, schön das sie in euren Erinnerungen weiterlebt!

6

Sehr schön geschrieben, traurig, aber so wahr und berührend. Erinnerungen ist alles was bleibt, deshalb sind sie so wichtig.
Wie geht es Euch mittlerweile mit dem Verlust?

7

Danke für die netten Worte.

Für meinen Bruder war es sehr hart. Tatsächlich war er danach lange wie isoliert von allem. Unerreichbar irgendwie, selbst wenn man ihn umarmte. Irgendwann haben Freunde interveniert. Fanden das genug getrauert sei. Da würde ich mich heute für ihn wehren. Nur der Trauernde kann sagen wann die Trauer überwunden ist. Damals habe ich leider nichts gesagt. Er kam dann aber nach und nach wieder zurück zu seinem "alten" selbst und heute gehts ihm gut.

Ich kann heute meistens an sie denken ohne traurig zu sein. Manche Bilder sind noch immer sehr klar. Aber ich habe wohl vieles auch vergessen. Ich habe Erinnerungen die früher Bilder enthielten aber heute weiss ich sie nur noch weil ich sie so oft in meinem Kopf wiederholt habe. So wie eine Erinnerung an ein Erinnerung.

Das Bild mit der Familie die sich über ein Baby freuten hat mich lange beschäftigt. Dabei kann ich selber nicht so genau sagen warum. Der Kontrast vielleicht? Das dass Leben einfach so weitergeht?

8

Ja ich denke auch, dass es mit dem Kontrast zu tun hat. Die einen weinen, weil sie jemanden verloren haben, fühlen sich leer und vom Schicksal betrogen. Die anderen sind voller Freude über den neuen Menschen, der gerade ankam, voller Glück und Seelenfrieden. Da fällt mir ein, dass damals als ich unsere Tochter zur Welt gebracht habe 2016, ein Mann in der Klinik zu uns sprach, wie komisch das für ihn sei gerade, wir bekommen ein Baby und ein paar Meter weiter lag ein Freund von ihm im Sterben, auch ein junger Mensch. Da begreift man, wie nah Glück und Trauer beieinander liegen können.

Ich wünsche Euch alles Liebe!