Eigene Grenzen kommunizieren

Liebe Frau Dr. Retz,

mein Sohn ist 4 Jahre alt und hat einen 1,5 Jahre alten kleinen Bruder. Obwohl wir nicht bewusst ständig auf Rücksichtnahme gepocht haben, ist er ein sehr bemühter großer Bruder. Wir erwarten auch nicht, dass er all seine Sachen teilt oder seinen Ärger nicht zeigt, im Gegenteil. Aber er geht sehr vorsichtig mit dem kleinen Bruder um.
In letzter Zeit beobachte ich mit Sorgen, dass obwohl ich ihn grundsätzlich als willensstark bezeichnen würde, er seine Grenzen nicht aufzeigt. Er spielt beispielsweise gerne mit einem etwas älteren Mädchen, das immer "lustige Ideen" hat und ihn anstiftet dies und das zu tun. Er macht das mit und wenn sie dann "erwischt" werden, sagt das Mädchen stets, es sei seine Idee gewesen und sie habe versucht, ihn abzuhalten. Die Mutter des Mädchens glaubt das auch jedes Mal. Ich selbst weißt, dass man als Eltern meist nur eine Momentaufnahme sieht, habe aber bewusst genauer hingeschaut. Nun möchte ich nicht das Mädchen verändern - das wäre ja auch niemals mein Recht, sondern meinem Sohn beibringen, für sich selbst einzustehen. Ich habe es mit Reden versucht und ihm gesagt, dass er nicht alles tun muss, was sie fordert und sie auch dann noch seine Freundin sein wird. Und auch gefragt, ob das wirklich alles seine Ideen waren (was er verneint hat).

Ein weiteres Beispiel auf dem Spielplatz. Ein Mädchen im Alter seines kleinen Bruders berührt ihn immer wieder im Gesicht. Ich ermutige ihn, Stop zu sagen. Das versteht aber ein 1,5 jähriges Mädchen nur bedingt. Dann zwickt sie auch noch und ich ermutige ihn, das abzuwehren und warte, dass auch die Mutter des Mädchens reagiert, doch diese sieht einfach nur zu. Als ihm das Mädchen dann ins Auge fährt und er weint, gehe ich selbst dazwischen und sage zu dem Mädchen, dass ins Auge fahren nicht in Ordnung ist. Die Mutter steht nur hilflos daneben und meint, das sei doch "normal"... rückblickend würde mir viel als Antwort einfallen, aber ich war so mit Trösten beschäftigt und damit, meinen Sohn zu bestärken, dass das nicht in Ordnung war. Eine andere Mutter hat nur die Augen verdreht und gemeint, ein 4-Jähriger braucht doch nicht wegen einer 1,5 Jährigen weinen. Das habe ich aber nur am Rande mitbekommen und mir gedacht: Ein anderer 4-Jähriger hätte ihr einfach eine Ohrfeige gegeben.

Ich finde es ja bemerkenswert, dass mein Sohn das unterscheiden kann und einem 1,5 jährigen Mädchen nicht grob begegnet. Aber ich möchte ihm vermitteln, für sich selbst einzustehen und sich noch besser zu verteidigen. Nebenbemerkung dazu: Ich selbst arbeite stark daran, meine Grenzen besser aufzuzeigen, bin also traurigerweise nur bedingt ein Vorbild. Ich war stets bemüht es allen Recht zu machen und erst als ich das Verhalten an meinem Kind bemerkt habe, hat es mich wachgerüttelt und meine Kinder sind es mir wert, daran zu arbeiten.

Ich bin für jeden Tipp unendlich dankbar, denn ich möchte vermeiden, dass er es so macht wie ich und lieber immer einsteckt.

Herzliche Grüße,
Silvia

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Liebe Silvia,

Sie haben ihr Kind gut beschrieben und scheinen eine aufmerksame, feinfühlige sowie reflektierte Mama zu sein. Aber Sie machen sich auch Sorgen. Zunächst: Es ist doch sehr positiv, wie sich Ihr Sohn entwickelt. Vielleicht kommt er in Bezug auf sein Temperament nach Ihnen.
Sie wünschen sich, dass er durchsetzungsstärker wird. Er ist gerade mal vier Jahre alt und hat noch so viel Zeit an diesem Entwicklungsthema zu arbeiten. Geben Sie ihm bitte Zeit, reden Sie mit ihm über die Situationen, aber unterstützen Sie ihn aktiv dabei, wenn er sich nicht ausreichend wehren kann. Sie sind sein Vorbild: Wenn Sie gute Konfliktstrategien am Spielplatz vorleben, Grenzen aufzeigen, dann lernt ihr Sohn an ihrem Vorbild wie das geht.

Ein schönes Bilderbuch über Gefühle ist dieses hier: https://www.aracari.ch/page/de/buecher/detail?id=213 Schauen Sie Bilderbücher zu diesem Thema an. Sehr schön ist auch dieses Buch zum Thema Mut: https://www.morisken-verlag.de/titel-autoren/kinderbuecher/fussel-und-der-mutausbruch

Einen Gedanke möchte ich Ihnen noch mitgeben: Oft übertragen Eltern eigene Themen auf das Kind. Differenzieren Sie, ob das gerade eher Ihr Thema ist, Ihre Sorgen sind. Und im Mittelpunkt sollte immer die Frage stehen: Wie kann ich das Kind bei diesem Entwicklungsschritt aktiv unterstützen.

Alles Gute,
Herzliche Grüße,

Eliane Retz

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Vielen lieben Dank für die hilfreichen Anregungen! Sie haben vollkommen Recht, vor allem an besonders stressigen Tagen neige ich bestimmt dazu, auch meine Themen unbewusst auf meine Kinder zu projizieren - selbst wenn ich eigentlich merke, dass es meinem Sohn gut geht und er lebhaft und gesprächig ist wie immer (also vielleicht auch Dinge ganz anders wahrnimmt).

Herzlichen Dank auch für die wirklich hilfreichen Buchtipps, ich kannte beide noch nicht, aber es hat sich bisher auch sehr bewährt, bestimmte Themen über Bücher zu vermitteln. Ich habe beide bereits bestellt und freue mich auch selbst schon auf die gemeinsame Lektüre mit meinem Sohn. Nochmals vielen lieben Dank!

Herzliche Grüße,
Silvia