Feiern oder flüchten

Karneval – braucht man den?

Während sich die einen mit Hingabe in das närrische Spektakel stürzen, reisen andere am liebsten zum Kurzurlaub in karnevalsfreie Regionen. Wofür aber ist Karneval überhaupt gut? urbia-Autorin Gabriele Möller hinterfragt Sinn und Unsinn des karnevalistischen Treibens.

Autor: Gabriele Möller

Am Karneval scheiden sich die Geister

Karneval Rechtstipps
Foto: © Panthermedia.net/ Erich Teister

Solange ich im Rheinland lebte, habe ich die Sinnhaftigkeit des Karnevals nicht in Frage gestellt. Er gehörte einfach zu jedem Vorfrühling dazu, mit seiner ungezügelten Weiberfastnacht auf den Straßen, den feuchtfröhlichen Abenden in den Kneipen, den bestrumpften, frierenden Funkenmariechen beim Umzug und den klebrigen „Kamelle“, die die Kinder von der Straße aufklauben. Vieles kann man erst mit etwas Abstand klarer sehen. Das weiß ich, seit ich in der karnevalistischen Diaspora lebe, nämlich im Bergischen Land. Wo man zwar überzeugt ist zu wissen, was Karneval ist, dies aber nicht wirklich weiß. Hier ist der Rosenmontag ein normaler Arbeitstag. Kostümierte im Straßenbild? Fehlanzeige. Für die jecken Regungen einiger Sonderlinge gibt es den „Rosensonntagszug“. Hier wird Süßes in homöopathischer Dosis über einer dünnen Schar frierender Narren in Alltagskleidung samt deren (immerhin verkleidetem) Nachwuchs ausgestreut.

Nachdem ich diesem Spektakel das erste Mal beiwohnen durfte, war ich einigermaßen fassungslos. Wie sollte das erst noch weiter nordöstlich werden, wenn der Karneval schon hier, nur wenige Kilometer vom Rheinland entfernt, bereits in den letzten Zügen liegt? (In Berlin wurde für dieses Jahr eine Drosselung der Lautstärke der Zugwagen verordnet, mit der Begründung, der Karnevalszug sei eine „als störend einzustufende Veranstaltung“!). Und zum ersten Mal fragte ich mich: Kann man eigentlich auch ohne Karneval leben? Meine Freundin Sophia bejaht diese Frage, ohne zu zögern. Sie hat längst, wie jedes Jahr, für die ganze Familie Fahrkarten gekauft, um den närrischen Tagen bei einem Kurzurlaub an der Ostsee zu entkommen. Sie findet die närrische Fröhlichkeit künstlich und aufgesetzt, verabscheut den Lärm und den Trubel. Doch wie kommt es, dass der Fasching, die Fastnacht, der Karneval für manche Menschen so anziehend ist - und andere so abstößt, dass sie ihn kaum ertragen können?

Zwischen miesepetriger Vernunft und vorwitzigem Trieb

Ich glaube, es hat viel zu tun mit dem alten und auf ewig unentschiedenen Kampf zwischen Kopf und Bauch. Zwischen der betulichen, etwas miesepetrigen  Vernunft und dem meist bestens gelaunten, vorwitzigenTrieb. Sigmund Freud war wohl der Erste, der zugab, dass der Mensch kein vernunftgesteuertes Wesen ist. Sondern dass er von Wünschen, Regungen und Gelüsten getrieben ist, die manchmal weitaus mächtiger sind als der Verstand. Eine besonders starke Kraft unter ihnen: die Lust auf Verbotenes. Und hier kommt der Karneval ins Spiel. Er erlaubt auch den ungehobelten Gesellen unseres Wesens, die sich einen Dreck um die Konvention scheren, für eine begrenzte Zeit mitten durch unsere Wohlerzogenheit und Kontrolliertheit zu tanzen und sich mit uns zusammen an den Festtisch zu setzen.
Daran ändert es auch nichts, dass Historiker erklären, der Karneval sei nach neuerer Forschung ein urchristliches Ritual, das seit dem 15. Jahrhundert dazu gedient habe, vor der Fastenzeit noch einmal alle verderblichen Essensvorräte aufzubrauchen. Was natürlich am besten im Rahmen eines fröhlichen, tagelangen Gelages zu bewerkstelligen war. Gut und schön, aber der Kern des Karnevals ist ja wohl nicht das Essen, oder? Näher kommen die Forscher der ganzen Wahrheit schon, wenn sie erklären, dass auch die Lust am Regelbruch dazu gehörte, die zugleich eine Verhöhnung der jeweiligen, oft ungeliebten Machthaber war. Das ließ Druck aus dem Kessel der Psyche, was wichtig war und die Macht der Mächtigen in der übrigen Zeit sogar festigte.

Lust am Regelbruch nimmt Druck von der Seele

Deshalb duldete die Kirche es auch, dass an den tollen Tagen Priester und Bischöfe nicht so respektvoll behandelt wurden, wie sonst. Doch auch die weltlichen Herren durften im Karneval verspottet werden. So waren es in der Stadt Mainz die Franzosen, die im 18. Jahrhundert das Rheinland besetzt hatten, die ihr Fett weg bekamen. Und in Köln waren das die Preußen, die nach dem Wiener Kongress Anfang des 19. Jahrhunderts das Rheinland und Westfalen annektiert hatten. Dieser Spott über die feindlichen Soldaten ist auch Ursprung der absichtlich lächerlichen Uniformen, die im Rheinland bis heute von den Mitgliedern der Karnevalsvereine getragen werden, aber auch der Büttenreden an Rhein und Main, die traditionell besonders gern die Politiker aufs Korn nehmen.

Feste, bei denen die Machtverhältnisse sich für ein paar Tage umkehren, sind uralt. Es gab ein solches Fest bereits im mesopotamischen Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris. Eine altbabylonische Inschrift aus dem 3. Jahrtausend vor Christus besagt dort: „Kein Getreide wird an diesen Tagen gemahlen. Die Sklavin ist der Herrin gleichgestellt und der Sklave an seines Herrn Seite. Die Mächtige und der Niedere sind gleichgeachtet.“ Im alten Rom gab es etwas Ähnliches, die Saturnalien. Einmal im Winter tauschten Sklaven und Herren die Rollen, auf den Straßen wurde wild gefeiert.

Auch der Flirt gehört zur fünften Jahreszeit

Doch die närrische Entladung aufgestauter Gefühle geht noch weiter. Denn da gibt es schließlich auch noch die erotische Komponente, die der Karneval wohl schon immer besaß. An den tollen Tagen wird auf der Straße und in den Gastwirtschaften bekanntlich nicht nur geflirtet und „gebützt“ (geküsst), sondern es kommt gelegentlich auch zu mehr. Und diese Freizügigkeit  ist ganz sicher weder von der Kirche gewollt, noch aus dem früheren Belagerungszustand karnevalistischer Regionen zu erklären. Da ist es also doch wieder: das Ungezähmte, Amoralische und Triebhafte im Wesen des Karnevals. In der alemannischen Fastnacht, der entfernten Kusine des rheinischen Karnevals,  äußert sich das Ungezähmte auch ganz sichtbar: in den wilden Fratzen der traditionellen Figuren. Deren Aussehen ähnelt seltsam stark den Dämonendarstellungen in den Tempeln Asiens. Schaut man in die irren, zähnebleckenden, augenrollenden Hexen- und Teufelsfratzen der „Fasenaht“, scheinen 2000 Jahre Christentum nie stattgefunden zu haben. Der Entdecker der „Archetypen“, der Psychiater Carl Gustav Jung, hatte gewiss seine Freude daran. Archetypen beschrieb er als Urbilder der Seele, die unabhängig von der jeweiligen Geschichte und Kultur sind. Sie werden daher von allen Menschen erkannt und kommen in fast allen Kulturen vor. Und die Dämonen, die wir sonst lieber in den Tiefen unserer Psyche verschlossen halten, gehören eben auch dazu. Sie dürfen für ein paar Tage heraus und ihr – durch Bräuche gezähmtes – Unwesen treiben.

Wilde Wintergesellen weichen dem Frühling

Der Karneval also als Ventil für die Kräfte des Unbewussten, gar als Therapie? Warum nicht? Psychologen sind der Ansicht, dass auch die dunklen, ungezügelten Regungen der Seele ans Lichts der Bewusstheit dürfen müssen, wenn der Mensch heil werden soll. Wie gefroren und erstarrt harren sie oft allzu lange in der Tiefe der Psyche. Nicht zufällig liegt der Karneval in einer Jahreszeit, wo der Winter die Welt noch im eisigen Griff hat, es aber schon eine erste Ahnung des Frühlings gibt und die Sonne an Kraft gewinnt. Zwar ist der Karneval – so die neuere Forschung - keine direkte Fortführung heidnisch-germanischer Frühlingsfeste. Dazu ist die zeitliche Lücke von mehreren Jahrhunderten zwischen germanischem Götterkult und dem Beginn erster Karnevalsbräuche zu groß. Aber er ist doch mit diesen Festen seelenverwandt. Der Frühling aber bedeutete von jeher nicht nur das Hervorsprießen hübsch-harmloser Blümelein. Sondern, dass Licht und Wärme den Kampf aufnehmen mit den Kräften der Dunkelheit und der Kälte. Damit man sie vertreiben kann, müssen diese Kräfte erst einmal hervorgelockt werden. Und das passiert, wenn im Schwäbischen, im deutsch-österreichischen Alpenraum und in der Nordschweiz die hölzernen Masken der Hexen, Narren und sog. „wilden Männer“ ein letztes Mal durch die Straßen tanzen, bevor bald das Osterfest den Sieg des Frühlings, und für Christen das Licht in Gestalt des auferstandenen Christus bringt.

Masken heben die Grenzen zur Götterwelt auf

Wem diese Interpretation der närrischen Tage zu weit geht, der mag sich die Gelegenheiten anschauen, bei denen in anderen Kulturen zur Maske gegriffen wird. Dies geschieht außerhalb der christlichen Welt fast ausschließlich bei rituellen und spirituellen Anlässen. Dabei soll oft eine Gottheit durch die Maske und  Verkleidung eines Priesters herbei gelockt werden. Und nicht nur das: Sie soll sogar Besitz ergreifen von dem Maskenträger, so dass dieser für die Dauer des Rituals selbst zur Gottheit wird. Die Vereinigung zwischen realer und geistiger Welt ist dann vollzogen, die Grenze zwischen Seelenkräften und äußerer Wirklichkeit aufgehoben, der Mensch wird ganz, die Welt eins.

Waldfee oder Vampir – verborgene Wünsche werden wahr

Im Karneval der christlichen Regionen ist es natürlich nicht gleich die Identität einer Gottheit, die durch Masken und Kostümierungen angenommen werden soll. Doch eine Verbindung zu den unsichtbaren Kräften der Welt und der Seele bilden auch sie. Zwar dienten Masken und Verkleidungen ab dem 15. Jahrhundert vor allem dazu, für die Obrigkeit nicht mehr erkennbar zu sein. Die Respektlosigkeit und die frechen Reden der tollen Tage sollten keine ungünstigen Folgen für die Narren nach sich ziehen. Doch zugleich fällt auf, so Historiker, dass es bei den Verkleidungen zunächst nur negative, finstere Gestalten gab. Am weitaus häufigsten erwähnen die Quellen seit dem 15. Jahrhundert den Teufel. Ihm verwandt ist der „Wilde Mann“ der alemannischen Fastnacht, ebenfalls eine unheimliche Figur. Auch der Klassiker unter den Karnevalsfiguren, der Narr, war früher keineswegs ein lustiger Geselle: Er galt als Symbol der Vergänglichkeit, der Gottesferne und des Todes.

Heute dienen Kostüme hierzulande natürlich nur noch der puren Lust am Verkleiden. Die Auswahl des Kostüms verrät dabei bekanntlich oft etwas über die Wünsche des Trägers. Während zum Beispiel die meisten Kindergartenmädchen ein bisschen eintönig nach dem Prinzessinnen-Outfit oder dem Waldfee-Kostüm greifen, sagt es schon etwas mehr über ein Mädchen aus, wenn es sich für den Vampir-Umhang entscheidet. Bei Erwachsenen ist die Wahl ebenfalls kein Zufall. Warum es für einen Steuerfachgehilfen vergnüglich ist, sich bei der Kostümparty als Mafioso zu verkleiden oder für die Bibliothekarin reizvoll, sich als katzengleicher Vamp herauszuputzen, braucht man wohl nicht näher zu erklären.

Entschlackungskur für die Seele

Kommen wir aber zurück zum Ausgang und zur Frage: Braucht man den Karneval? Ich finde: unbedingt! Die Regionen, die den Karneval, den Fasching oder die Fastnacht ausgiebig feiern, sind glückliche Landstriche. Denn wenigstens einmal im Jahr dürfen deren kleine und große Bewohner die wohlgesetzte Maske der Selbstkontrolle und der Angepasstheit durch eine närrische Maskerade ersetzen. Sie dürfen laut und ein bisschen unanständig sein, schräg singen, ausgelassen tanzen und dabei genussvoll auch mal lächerlich aussehen – ohne dass irgendjemand missbilligend den Kopf schüttelt oder mit dem Finger auf sie zeigt. Kurz: Sie dürfen auf eine lustvolle und vergnügliche Weise ganz werden. Wenn das keine frühlingshafte Entschlackungskur für die Seele ist!