Studie belegt Zusammenhang

Frühe Einschulung - mehr ADHS-Diagnosen

Kinder, die vergleichsweise früh zur Schule kommen, gelten besonders häufig als hyperaktiv und unaufmerksam. Ärzte schätzen sie deshalb eher als ADHS-Kind ein und verschreiben häufiger Medikamente. Forscher empfehlen, eine flexiblere Einschulungspolitik zu testen.

Autor: Nina Braun

Einschulung zum Stichtag in der Kritik

Frühe Einschulung ADHS
Foto: © colourbox

Früh eingeschulte Kinder bekommen häufiger die Diagnose ADHS und entsprechende Medikamente als ihre älteren Klassenkameraden. Das geht aus einer neuen Studie des Versorgungsatlasses und der Ludwig-Maximilians-Universität München über das sogenannte Zappelphilipp-Syndrom hervor. Von den Kindern, die erst kurz vor dem Stichtag zur Einschulung sechs Jahre alt wurden, erhielten 5,3 Prozent im Laufe der nächsten Jahre die Diagnose ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung). Bei den rund ein Jahr älteren Kindern in der Studie waren es 4,3 Prozent.
Wenige Wochen oder Tage zwischen Geburtstag und Stichtag können somit gravierende Folgen haben. "Unsere Studie zeigt, dass die traditionelle Einschulungspolitik, bei der die Schulpflicht an gegebene Stichtage geknüpft wird, die Diagnosehäufigkeit psychischer Erkrankungen bei Kindern beeinflussen kann", schreiben die Forscher.

Schuleignungstest entscheidet über Schulfähigkeit

Die Frage, warum jüngere Kinder eher als impulsiv, hyperaktiv und unaufmerksam gelten, kann die Studie nicht beantworten. Die Forscher vermuten jedoch, dass das Verhalten der jüngeren und oft unreiferen Kinder mit dem ihrer älteren Klassenkameraden verglichen wird. Dadurch werde deutlich, dass das negative Verhalten bei den Jüngeren ausgeprägter sei und dies möglicherweise als ADHS interpretiert. Die Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden Diagnose steige.
Wann ein Kind eingeschult wird, ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich geregelt. In Niedersachsen, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen gilt etwa der 30. September, in Sachsen der 30. Juni, als Stichtag. Wer also bis dahin sechs Jahre alt geworden ist, ist in diesem Jahr schulpflichtig. Ob das Kind schulfähig ist, entscheidet der Schuleignungstest. Der prüft logisches Denken, Motorik, sprachliche Entwicklung und soziale Kompetenzen. Rückstellungen sind nur „aus erheblichen gesundheitlichen Gründen" möglich.
Die Frage des Einschulungsalters ist immer wieder Gegenstand von Diskussionen unter Fachleuten. Eine Zeit lang beherrschte die Ansicht die Debatte, je früher Kinder eingeschult würden, desto früher seien sie mit ihrer Ausbildung, also Studium oder Lehre fertig. Und je früher sie in die Berufswelt einstiegen, desto bessere Chancen hätten sie dort, vor allem im internationalen Vergleich. Dem widersprechen Fachleute mit dem Argument, dass ältere Kinder sich besser konzentrieren können und aufmerksamer sind.

Konzentration reift mit dem Alter

Auch Martin Holtmann, Direktor der LWL-Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Hamm sagt: „ Konzentrationsfähigkeit und motorische Ruhe reifen mit dem Alter.“ Ein Teil der Impulsivität jüngerer Kinder in einer Klassengemeinschaft sei deshalb einfach altersbedingt. Die Hypothesen der Studienautoren hält er für nachvollziehbar.Bei einem pauschalen Blick auf eine Kindergruppe, bei dem das genaue Alter nicht berücksichtigt wird, würden die Jüngeren so eben benachteiligt.

Die Diagnose ADHS kann den Forschern der neuen Studie zufolge stigmatisierend sein. Zudem können die Medikamente starke Nebenwirkungen haben. Es solle daher untersucht werden, ob eine flexiblere Einschulungspolitik den Zusammenhang zwischen Alter des Kindes und der ADHS-Diagnose abmildern kann.

Schulreife sollte individuell entschieden werden

Das hält auch Holtmann für sinnvoll. Wann das Kind reif für die Schule sei, sei immer eine individuelle Entscheidung, die Ärzte, Pädagogen und Eltern am besten gemeinsam treffen. Die meisten würden mit der Stichtagsregelung gut fahren. Bei den anderen müsse man bei der Einschulungsuntersuchung ganz genau auf den altersgemäßen Entwicklungsstand schauen. Diejenigen, die auffällig sind, sollten dann nicht extra früh eingeschult werden. Es gebe natürlich aber auch Kinder, die sowohl kognitiv als auch emotional weit entwickelt seien, dann könne man über eine frühere Einschulung sprechen. „Ich bin aber generell kein Freund davon, weil es sozial dann schwierig werden kann, spätestens in der Pubertät.“

Für die Studie wurden Abrechnungs- und Arzneiverordnungsdaten von sieben Millionen Kindern und Jugendlichen aus den Jahren 2008 bis 2011 ausgewertet. Der Versorgungsatlas ist ein Studienportal des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung.