Entwicklungsphase

Vorpubertät – zwischen Kinderspielzeug und Kajal

"Ist das jetzt schon die Pubertät?", mögen sich Eltern fragen, wenn ihre Kinder mit zehn oder elf (und eigentlich zu früh) motzend und rebellisch vor ihnen stehen. Es ist - das erfuhr auch urbia-Autorin Gabriele Möller - die VOR-Pubertät. Hier erfahren Sie alles über diese Phase.

Autor: Gabriele Möller

Vorpubertät - das erste Anklopfen der Hormone

Vorpubertät: Streit zwischen Mutter und Tochter
Foto: © iStock, GeorgeRudy

„Mama! Geht’s noch?“ Meine elfjährige Tochter verdreht entnervt die Augen und wirft mir einen Blick zu, der tiefe Zweifel an meinem Geisteszustand offenbart. Dabei habe ich sie nur gebeten, neue Getränke aus dem Keller heraufzuholen. Aber ob ich sie auffordere, den Schmutzwäscheberg von der Höhe des Mount Everest in ihrem Zimmer aufzuräumen oder ihre Hausaufgaben nicht erst zur Geisterstunde zu erledigen – oft ernte ich jetzt Totalverweigerung („Nee, Mama. Ich mach’ das jetzt einfach nicht!“). Andererseits hat sie nah ans Wasser gebaut: Als der Kühlschrank kürzlich nicht den erhofften Snack enthielt, war dies Grund genug für ein paar verzweifelte Schluchzer. Auf meine ratlose Klage antwortet eine Freundin überzeugt: „Das ist die Vorpubertät!“ Da ist es wieder, dieses Wort, das mir schon öfters begegnet ist - obwohl ich mich nicht erinnern kann, selbst jemals in so einer Phase gewesen zu sein. Gibt es die Vorpubertät überhaupt? Wenn ja, was löst sie aus? Verläuft sie bei Mädchen und Jungen gleich? Und was gibt den Noch-nicht-Teens auf dem präpubertären Glatteis Halt?

Zunächst die Nachricht, die den latenten Verdacht vieler Eltern bestätigt: Die Vorpubertät gibt es wirklich. „Heutzutage beginnen im gesunden, wohlernährten menschlichen Körper in der Regel schon ab einem Alter von acht oder neun Jahren die der Pubertät zugrunde liegenden hormonellen Veränderungen“, klärt das Lexikon auf. Dies heißt aber nicht automatisch, dass man dies auch schon äußerlich sieht: „Der Beginn der Pubertät findet im Gehirn etwa im Alter von acht Jahren statt, ohne dass die Kinder zunächst etwas davon bemerken“, so der Erziehungswissenschaftler Dr. Werner Stangl. Er fasst daher etwas weiter: „Die Vorpubertät ist die Phase, die nach dem Latenzalter, also der Zeit zwischen dem 6. und 10. Lebensjahr, folgt.“ Es wird deutlich: Zart wie ein Nebelschleier ist die Abgrenzung dieser Phase. Diese Unklarheit passt gut zum Lebensgefühl der Kinder dieses Alters: Sie wissen oft selbst nicht recht, ob sie noch Kind sind oder schon ein bisschen Teen.

Die Vorpubertät bei Mädchen

„Seit Monaten fängt sie an, Körpergeruch zu entwickeln - obwohl sie ausreichend duscht. Und ihre langen Haare werden seither immer total schnell fettig am Haaransatz,“ erzählt die Mutter einer Achtjährigen in einem Online-Forum und fragt, ob dies schon die Vorpubertät sein kann. Sie kann, denn Wissenschaftler fanden heraus, dass bei Mädchen schon vor der Pubertät die Eierstöcke langsam beginnen, vermehrt Östrogene herzustellen. Daneben werden im Gehirn auch schon Gonadotropine gebildet. Der Geschlechtshormonanstieg löst später den Beginn der Entwicklung von Brust, Gebärmutter, Scheide, weiblichen Körperformen und den Beginn der Menstruationszyklen aus. Ebenfalls schon vor der Pubertät werden in den Nebennieren kleine Mengen Androgene gebildet, die das Längenwachstum und irgendwann den Beginn der Schamhaarentwicklung anregen. Hormone aber wirken auch aufs Gehirn und lösen dort den Übergang vom Kind zum Jugendlichen aus. Mädchen wirken jetzt oft reizbar und ungeduldig, haben Stimmungsschwankungen. Sie imitieren in Verhalten und Kleidung schon die Teenager, schminken sich nicht selten bereits und studieren – gefangen zwischen Faszination und Befremden - die BRAVO und deren neueste Nachrichten zum Thema Petting.

Die Vorpubertät bei Jungen

„Mein achtjähriger Sohn ist seit etwa zwei Wochen von morgens bis abends schlecht gelaunt. Egal was man sagt, er ist immer am Maulen, ist aufsässig, und nörgelnd. Sein Lieblingssatz momentan: ‚Ist mir doch egal!’“, erzählt eine andere Forumsmutter und ergänzt: „Angefangen hat das Ganze damit, dass er begann, an den Klamotten herumzumaulen, die ich rausgelegt hatte, und seine Haare zu gelen“. Im Körper ihres Sohnes beginnen wahrscheinlich gerade die Androgene aktiv zu werden, männliche Hormone, die die Pubertät unmerklich einläuten – auch seelisch. Außerdem erhöht sich bei Jungen schon deutlich vor der Pubertät die Testosteronproduktion in den Hoden. Dieses männliche Geschlechtshormon prägt später die sogenannten sekundären Geschlechtsmerkmale, führt zu Muskel- und Körperwachstum sowie zum Beginn der neuen Körperbehaarung. Auch das Gonadotropin steuert das Wachstum von Scham- und Achselbehaarung und später – in der richtigen Pubertät - auch die Ausprägung von Barthaar und Brustbehaarung.

Präpubertäre Jungs sind oft noch sehr verspielt, toben gern lautstark herum, fangen aber auch an, die Zimmer- und Badezimmertür abzuschließen. Sie orientieren sich verstärkt an Gleichaltrigen und weniger an den Eltern, mit denen sie häufiger Konflikte suchen. In der Gruppe ein gutes Ansehen zu haben, wird enorm wichtig, hierfür tun Jungs sehr viel. Es zählen dabei Treue, Verschwiegenheit, Mut. Und oft gibt es, wie bei Teens, schon einen Gruppenkodex und eigene Begrüßungsrituale. Jungen probieren jetzt starke Sprüche aus und nähern sich – meist grob, ungeschickt und in Form von Kabbeleien – versuchsweise den Mädchen an.

Den Geschmack der Freiheit schon auf der Zunge

Für beide Geschlechter gilt also: Auch wenn die körperlichen Anzeichen noch nicht zu sehen sind, erkennt man den Beginn der Vorpubertät am veränderten Verhalten. Einerseits möchten die meisten Kinder sich jetzt noch ein wenig heile Welt erhalten, goutieren nach wie vor ihr Spielzeug. Andererseits stellen sie bisherige Regeln energisch in Frage und proben den Widerstand gegen die Eltern. Dieser bezieht sich momentan aber eher noch auf Alltagsinhalte („Ich möchte allein mit Freunden ins Kino!“), nicht auf Ideale. Ihr Wertesystem stimmt – anders als bei Pubertierenden - mit demjenigen der Eltern meist noch überein: Rauchen und Drogen sind doof, was die Eltern ablehnen, lehnen sie auch ab.

Kinder in der Vorpubertät stehen also mit einem Bein noch in der Kindheit und haben das andere schon fast auf den Boden des Teenageralters gestellt. So, als seien sie im Begriff, einen Graben zu queren. Die Waldorf-Pädagogik bezeichnet diesen Übergang nicht zu Unrecht als den „Rubikon“, angelehnt an das Überschreiten dieses legendären Flüsschens durch Julius Cäsar. Diplom-Pädagoge Thomas Drößler betont, dass die Kinder jetzt in einer Art „soziokulturellem Vakuum“ seien: „Die Kids werden noch nicht als Jugendliche, aber auch nicht mehr als Kinder angesehen“.

Leicht haben es die Nicht-Mehr-Kinder und Noch-Nicht-Teens in diesem Vakuum nicht: „Das Alter der Vorpubertät ist gekennzeichnet durch eine Phase der psychischen Destabilisierung“, betont Drößler. Es konfrontiere „die jungen Menschen mit Entwicklungstatsachen, für deren Bewältigung ihnen noch nicht die geeigneten Mittel und Wege zur Verfügung stehen.“ Sie fühlten sich hin und her gerissen zwischen dem Vertrauten und dem Neuen, noch Unscharfen und Beängstigenden, zugleich jedoch auch Reizvollen. Für ihre Umwelt erscheine ihr Verhalten „labil, schwankend zwischen schwer zu bändigender Hyperaktivität und scheinbar passiver Verträumtheit“, so der Experte von der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit in Dresden.

Das andere Geschlecht - aus sicherer Entfernung betrachtet

Dieses Hin- und Hergerissensein zeigt sich auch im Verhältnis zum anderen Geschlecht: Hier gibt es schon erstes Interesse, aber eher aus der Distanz. Man sitzt im Unterricht am liebsten neben Vertretern des eigenen Geschlechts, bei spontanen Aufstellungen (Chor) stellen sich Mädchen und Jungs meist säuberlich getrennt voneinander. Andererseits wird aus sicherer Entfernung schon heimlich diskutiert, welcher Junge besonders „süß“ ist, welches Mädchen „zickig“ oder „cool“. Es gehört zum Ansehen in der Klasse, möglichst schon einen Verehrer oder eine Verehrerin zu haben, auch wenn es noch keine echte sexuelle Anziehung gibt: „Meine Große (9) hat mir neulich sehr traurig erzählt, dass sie das einzige Mädchen in der Klasse sei, in das niemand verliebt ist! Torschlusspanik mit neun! Ich selbst wollte mit 13 Jahren noch ein Pferd heiraten“, postet eine Mutter halb erschrocken, halb amüsiert.“ Und so kreischen sich schon elfjährige Mädchen bei Konzerten von Justin Bieber die Stimmbänder wund, um dort andererseits Teddybären auf die Bühne zu werfen - das vielleicht typischste Symbol der Kindheitswelt.

Was Kinder jetzt besonders gut können

Die Vorpubertät ist aber nicht nur eine Zeit der Verunsicherung. Kinder in diesem Alter entwickeln auch besondere Stärken. So haben Hirnforscher festgestellt, dass jetzt das formale Denken ausgeprägt wird. Nun entwickeln Kinder die Fähigkeit, komplexe oder abstrakte Zusammenhänge zu erkennen und zu bewältigen. Deshalb wird auch der Unterricht in Fächern möglich, die dies voraussetzen, wie Grammatik, alte Sprachen, Mengenlehre und Algebra. Der Wortschatz wächst sprungartig, die Fähigkeit, schwierige Satzkonstruktionen zu bilden, steigt. Und wer bisher ein recht chaotisches Kind hatte, darf hoffen: Jetzt entwickelt sich auch die Fähigkeit zu organisieren und zu planen, diese Pläne zielstrebig zu verfolgen und aus Fehlern zu lernen. "Es vollzieht sich ein Prozess kritischen Nachdenkens über sich selbst sowie die Fähigkeit des Entwurfs von Zukunftsplänen", erläutert der Erziehungswissenschaftler Prof. Rudolf Heidemann.

Medien locken ins Teenie-Alter

Dass frühere Generationen von Eltern die Vorpubertät eher verschlafen haben, hat mehrere Gründe. Zum Einen begann das Aktivwerden der Hormone schlicht später. Zum Anderen waren die Begrifflichkeiten anders: Jungs waren in den „Flegeljahren“, Mädchen wurden vom Rollenverständnis her ohnehin braver erzogen und wahrgenommen. Vor allem aber hatten die Medien nicht einen Bruchteil des heutigen Einflusses. Eine Umfrage bei den Freundinnen meiner Tochter ergab: Die Schauspielerin Miley Cyrus, die als „Hannah Montana“ eine Schülerin mit einem Doppelleben als Rocksängerin spielt, beflügelt heute die Tagträume der Mädchen schon ebenso, wie „Deutschland sucht den Superstar“ oder „Germany’s next Topmodel“. Ein wahrer Leckerbissen für Entwicklungspsychologen sind die Figuren Edward und Bella aus der schon bei Zehnjährigen beliebten Romanverfilmung „Twilight“. Das erste, zaghafte Interesse der vorpubertären Kinder am anderen Geschlecht und ihr gleichzeitiges Desinteresse an Sexualität akkumulieren sich hier geradezu: Denn Edward ist zwar ein Vampir und daher nicht ganz ungefährlich (was der beginnenden Ahnung von Sexualität entspricht), aber er ist zugleich auch keusch und schützt seine Bella heldenhaft vor allem Übel, so dass man sich bei ihm sicher fühlen kann (wie ein beschütztes Kind). Und auch für Jungs gilt: Ob nun GZSZ, Simpsons, Zack & Cody, Endlich Samstag, iCarly, die Wilden Kerle oder der Harry Potter der späteren Verfilmungen: Viele Filmhelden sind älter als sie selbst und locken – teils auf verkitschte und damit besonders reizvolle Weise - schon in die Welt der Teens.

Was Prä-Pubertierende brauchen

Es ist nicht zu leugnen: Die Kindheit ist kürzer geworden. Und auch, wenn man so früh nicht damit gerechnet hat: „Als Eltern muss man sich jetzt daran gewöhnen, dass Verhaltensweisen von draußen in die Familie hineingetragen werden. Man kann nur darauf vertrauen, dass das eigene Vorbild und die eigenen Einflüsse dem einigermaßen standhalten“, so der Kinderarzt und Entwicklungsexperte Dr. Rüdiger Posth. Stoppen können Eltern diese Entwicklung nicht, aber sie können dem Kind noch ein Stück Kindheit bewahren. Sie können darauf achten, dass die Zeit, die das Kind vor den Bildschirm-Medien verbringt, überschaubar bleibt. Nicht jedes pseudo-teenagerhafte Verhalten muss gefördert werden: Ein neunjähriges Mädchen braucht noch nicht geschminkt zur Schule zu gehen, ein zehnjähriger Junge noch nicht sein erstes Bier probiert zu haben.

Geht einem das Verhalten des Nachwuchses zu weit, ist es wichtig, mit dem Kind im Gespräch zu bleiben. „Jetzt befinden sich die Kinder in einem Alter, in dem man offen mit ihnen reden kann, am besten in einer entspannten Minute. Man kann ihnen erklären, wie man selbst die Dinge sieht und wie man gerne hätte, dass sich das Kind zu Hause verhält“, rät Posth in seinem Online-Forum. Diese Auseinandersetzung dürfe man nicht scheuen, denn „solche Gespräche festigen zugleich die Eltern-Kind-Bindung“. Und die ist jetzt noch besonders wichtig, denn seelisch sind Vorpubertierende zarte Pflänzchen. Sie brauchen – auch wenn es oft nicht so wirkt – viel Zuwendung. Der Heilpädagoge Henning Köhler sagt hierzu: „Nur dadurch, dass ein anderer Mensch, der mich liebt oder schätzt, mich sieht in meinem eigentlichen Wesen, mich erlebt und betrachtet, kann ich mich in meinem innersten Menschentum spüren.“

Hobbys geben Stabilität in der Übergangsphase

Jetzt sind aber auch Hobbys besonders wichtig. Denn die eignen sich fast immer für Kinder wie Teens gleichermaßen und geben so Kontinuität auch in der Übergangsphase. Etwas zu können, gemeinsam zu schaffen (Teamsport, Orchester, Chor etc.) und auch mal Hürden zu überwinden macht stark. Vor allem Sport hilft außerdem, angestaute oder schwierige Emotionen abzureagieren, die eigene Stärke zu spüren und sich zugleich in eine Gruppe eingegliedert zu fühlen. Wichtig sind solche Aktivitäten auch, um der Scheinwelt der TV-Serien echte und eigene Erfahrungen entgegenzusetzen. Die bilden auch ein Gegengewicht zu den oft ausgeprägten Tagträumereien. Auch viele spannende Kinderbücher beschäftigen sich mit dieser Entwicklungsphase und bieten Identifikation. Die Helden von Erich Kästners „Das fliegende Klassenzimmer“, der ersten „Harry Potter“-Bände oder auch der „Vorstadtkrokodile“ (Max v. d. Grün) sind Vorpubertierende. Die Gruppen haben oft einen eigenen Ehrenkodex oder eine Geheimsprache, Begeisterungsfähigkeit, Treue, Verschwiegenheit, Verlässlichkeit, Kameradschaftlichkeit, Mut und Einsatzbereitschaft sind gefragt.