"Halt, bleiben Sie stehen!"

Selbstsicherheitstraining für Kinder

Selbstbewusste Kinder taugen nicht als Opfer. In Sicherheitstrainings können Kinder lernen, Angreifern gegenüber stark und sicher aufzutreten und sich so zu schützen. Woran Sie gute Kurse erkennen und welche Regeln Kinder bei Gefahr kennen sollten, erfahren Sie in diesem Artikel.

Autor: Heike Byn

Auf Angreifer mit Selbstbewusstsein reagieren

Kinder springen Feldweg
Foto: © panthermedia.net/ Klaus-Peter Adler

„Ich sage es zum letzten Mal: ‚Bleiben Sie stehen’!“, schmettert der achtjährige Felix seinem Gegenüber entgegen. Den linken Arm mit der Hand zur Stopp-Geste erhoben, ein Bein vorgestellt, das andere im sicheren Stand dahinter. So zeigt der Grundschüler dem Mann vor ihm, dass er entschlossen ist, sich nicht weiter belästigen oder gar anfassen zu lassen. Dass er selbstbewusst genug ist, auf einen genügend großen Abstand zwischen sich und dem Fremden lautstark zu bestehen. Nach einem vehement vorgetragenen „Ich sage es zum letzten Mal: Lassen Sie mich vorbei!“ fixiert Felix den Mann und geht dabei festen Schrittes im großen Bogen an ihm vorbei. „Prima! Das hast du gut gemacht“, lobt der Erwachsene den Jungen, bevor der in den Stuhlkreis zu den anderen Kindern zurückkehrt. Derweil wird aus dem Angreifer wieder der Diplom-Psychologe René Wittek. In einem Rollenspiel hat er versucht, den Jungen in ein Gespräch zu verwickeln. Während des Sicherheitstrainings für Grundschulkinder schlüpft Wittek noch in viele andere Rollen: Er ist der Mann im Auto, der ein Kind ins Fahrzeug locken will; der nette Mensch, der ein Kind zum Computerspielen zu sich einlädt und irgendwann auch „Franky-Zanky“, ein jugendlicher „Abzocker“, der ein Kind nötigt, ihm sein neues Handy zu geben.

So verschieden die Angreifer auch sind, es geht in den gestellten Spielszenen immer um ein und dasselbe: Die Kinder sollen auf ihr Bauchgefühl in bestimmten Situationen achten; lernen, ihren Fähigkeiten zu vertrauen und mit einfachen Strategien gegen potenzielle Angreifer vorzugehen. Währenddessen sitzen die Eltern der 20 Kursteilnehmer zwischen sechs und elf Jahren in der zweiten Reihe. Staunend, schmunzelnd und zum Schweigen sowie Nicht-Einmischen verpflichtet. Später sollen sie zuhause gemeinsam mit ihren Kindern das Geübte und Gelernte vertiefen und im Alltag am Leben erhalten.

Vor einigen Jahren hat der Diplom-Psychologe René Wittek gemeinsam mit dem ehemaligen Kriminalhauptkommissar Jörg Fröhlich ein Sicherheitstraining entwickelt, das Kinder stark machen soll in gefährlichen Situationen. „Egal ob Schikane auf dem Schulhof, Raub und Erpressung oder sexuelle Übergriffe – am besten kann sich ein Kind selbst helfen. Mit Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen“, erläutert René Wittek die Idee. Quer durch die Republik bietet das gemeinsame Unternehmen CONVA inzwischen Sicherheitstrainings für Kinder und Teenager an.

Spielerisch auf ernste Gefahren vorbereiten

Begriffe wie Mobbing oder sexueller Missbrauch fallen während des Trainings im Beisein der Kinder nicht, um sie nicht zu verängstigen oder zu verunsichern. „Sie sollen nicht durchs Leben gehen und hinter jeder Ecke Gefahren wittern, dennoch aber für den Notfall gerüstet sein“, betont Diplom-Psychologe René Wittek. Stattdessen sind die vier Seminartage zu je vier Stunden gespickt mit kindgerechten Geschichten und interaktiven Rollenspielen. Die Kinder lachen viel, bekommen Zeit und Raum zum Herumtoben – und sind doch wieder auf den Punkt ernst und aufmerksam, wenn es gilt, einfache Strategien gegen verbale oder handgreifliche Attacken anzuwenden. Dabei lernen die Jungen und Mädchen ihre wichtigsten „Waffen“ – reden, „Nein“-Sagen und Selbstverteidigung – kennen und üben deren Gebrauch im Rollenspiel so oft und wiederholt, bis jedes Kind die entsprechenden Sätze und Aktionen aus dem Eff-Eff abspult.

Selbstsicherheitstraining: So erkennen Sie Qualität

„In guten Sicherheitstrainings geht es nicht darum, Kindern vorzumachen, sie könnten sich ernsthaft gegen Erwachsene körperlich wehren“, betont Martina Huxoll, Gewalt-Fachberaterin beim Deutschen Kinderschutzbund in Nordrhein-Westfalen. „Es geht eher darum zu trainieren, selbstsicher aufzutreten“. Dazu gehört es, Grenzen zu setzen, Bedürfnisse klar zu äußern und deutlich „Nein!“ zu sagen. Außerdem müssen Kinder erkennen: Die Verantwortung für Gewalt liegt immer bei dem Erwachsenen. „Selbst wenn etwas passiert – Kinder tragen niemals die Schuld daran“, so Martina Huxoll.

Die Nachfrage nach Sicherheitsseminaren ist riesig und entsprechend groß ist die Zahl ihrer Anbieter. Kirchliche Einrichtungen und Volkshochschulen gehören ebenso dazu wie ehemalige Polizisten oder Kampfsportschulen. Doch die Qualität der Programme schwankt ebenso wie Preise und Methoden. Ein Gütesiegel gibt es nicht – jedoch Kriterien, die Eltern helfen, gute Kurse von schlechten zu unterscheiden. Der Deutsche Kinderschutzbund hat dazu folgende Punkte erarbeitet:

  • Der Kurs findet in geschützter Atmosphäre und in kleinen Gruppen statt.
  • Die Veranstalter erklären das Kurskonzept und beantworten Fragen.
  • Idealerweise gibt es einen Elternabend zur Vor- und Nachbereitung.
  • Der Anbieter ist mit den örtlichen Hilfsstellen vernetzt (z.B. Jugendamt, Polizei oder Kinderschutzbund).
  • Die Kursinhalte sind altersgerecht aufbereitet und werden spielerisch umgesetzt.
  • Alles im Kurs ist freiwillig.
  • In den Kursen geht es vorrangig um Selbstsicherheit und Selbstbehauptung und nicht nur um Techniken der Selbstverteidigung.
  • Es gibt keine Leistungsabfrage oder plötzliche Ernstfallübungen, die Kinder einschüchtern.
  • Die unterrichteten Botschaften und Techniken sind realistisch. Die Position des Kindes ist klar: Nur der Täter trägt die Verantwortung.
  • Die Trainer haben Erfahrung in der Arbeit mit Kindern und einen entsprechenden beruflichen Hintergrund: eine psychologische oder pädagogische Ausbildung oder eine umfassende Fortbildung.
  • Starke Kinder taugen nicht zum Opfer

    Doch auch wenn angesichts der Fülle solcher Angebote ein anderer Eindruck entsteht: Die Zahl von Missbrauchsfällen steigt keineswegs rapide an. Stattdessen wird die Unsicherheit vieler Eltern immer größer, wie sie ihre Kinder vor möglichen Gefahren im Alltag schützen können. Vielleicht liegt das daran, dass sich die Medien mit Hingabe und vielfach geheuchelter Anteilnahme auf jedes Verbrechen, bei dem ein Kind zu Schaden kommt, stürzen? Vielleicht ist der Grund für überzogene Ängste aber auch der, dass es insgesamt immer weniger Kinder gibt. Jedenfalls wachsen die meisten sehr behütet auf und die Fürsorge und Achtsamkeit ihrer Eltern ist ziemlich ausgeprägt. Wenn sie denn darin mündet, dass Eltern ihre Kinder zu starken, selbstbewussten Menschen erziehen, wäre das eine gute Entwicklung. Und für die Vorsorge vor Notfällen gibt es ja schließlich Sicherheitstrainings, die die Kinder bei Gefahren wappnen.

10 wichtige Regeln für Kinder – und ihre Eltern

  • 1. Als Eltern müssen Sie immer wissen, wo, mit wem und wie lange Ihr Kind unterwegs ist. Weil Sie ihm sonst im Fall der Fälle nicht helfen können.
  • 2. Machen Sie Ihrem Kind klar, dass ein Täter aussieht wie jeder andere – und Frauen nicht automatisch ungefährlich sind.
  • 3. Ermuntern Sie Ihr Kind, mehr auf sein „Bauchgefühl“ zu hören: der Bauch signalisiert meist klar, wenn etwas nicht stimmt.
  • 4. Kinder sollen sich nicht von Unbekannten in ein Gespräch verwickeln lassen, unter keinen Umständen mit jemandem mitgehen und schon gar nicht in ein Auto einsteigen.
  • 5. Auch mit Bekannten dürfen Kinder nur mitgehen, wenn sie vorher ihre Eltern - zum Beispiel per Handy – gefragt haben.
  • 6. Ranzen, Sportbeutel oder Kleidung sollten auf keinen Fall sichtbar den Namen oder die Adresse des Kindes tragen. Die Infos kann sich ein Täter zunutze machen, um das Vertrauen des Kindes zu gewinnen.
  • 7. Für den Fall, dass Kinder und Eltern sich im Getümmel verlieren: Im Kaufhaus, Supermarkt oder anderen öffentlichen Plätzen sollten sich Kinder an die Information oder die Kasse wenden oder zu einem verabredeten Treffpunkt gehen.
  • 8. Wichtig ist, dass Kinder nicht nur ihren eigenen, sondern auch den Vor- und Zunamen der Eltern kennen sowie die Straße, in der sie wohnen. Die Infos reichen aus, um jemanden zu kontaktieren. Schulkinder sollten auch die Telefonnummer von zu Hause und dem Arbeitsplatz der Eltern entweder auswendig kennen oder auf einer Art Notfallzettel immer bei sich tragen.
  • 9. Kinder müssen die Notrufnummern von Polizei und Feuerwehr kennen. Üben Sie mit ihm, was es im Notfall sagen muss: Name, Adresse, Telefonnummer nennen und dann erzählen, was, wann, wo passiert ist.
  • 10. Zu Ihrer Beruhigung: Die große Mehrheit der Kinder und Jugendlichen kommt nie in eine gefährliche Situation.

Starke Familien schrecken potenzielle Täter ab

Ob und wie Eltern mit Fehlern, Rückschlägen und negativen Erlebnissen umgehen, prägt ganz entscheidend das Verhalten ihrer Kinder. Und zwar auch in Situationen, in denen sie Opfer von Raub, Diebstahl oder Nötigung werden. Starke Eltern, die für Offenheit und eine gute Kommunikation sorgen, erziehen Kinder in einer Familie, die von der Außenwelt – und damit auch von potenziellen Tätern – als widerstandsfähig und schwer angreifbar wahrgenommen wird. Mit René Wittek, Diplom-Psychologe und Seminarleiter von Sicherheitstrainings für Kinder, sprach urbia über die Vorbildrolle von Eltern, starke Familien und das Verhalten nach einem Übergriff.

Was können Eltern dafür tun, dass ihre Familie und damit auch ihre Kinder für andere als starke Gemeinschaft wahrgenommen werden?

René Wittek: Väter und Mütter sollten innerhalb und außerhalb der Familie klar zeigen, dass sie ihre Kinder ernst nehmen, ihnen zuhören und immer glauben. Auch und gerade, wenn sie erzählen, dass sie jemand angegriffen, bedroht oder beraubt hat. Da die meisten Täter aus dem Umfeld von Familien kommen, können Eltern mit ein paar Signalen daheim dafür sorgen, dass Besucher auf Zeichen für ein schützendes Netzwerk stoßen, das die Kinder im Alltag begleitet. Das kann eine in der Diele aufgehängte Liste mit Personen sein, die die Kinder von der Schule oder nach Freizeitterminen abholen. Oder ein Blatt mit Telefonnummern und Anlaufstellen für Kinder in Notsituationen. Außerdem sollten Eltern sehr zurückhaltend sein, Namen oder Adresse ihrer Kinder zu verbreiten. Das fängt beim Namensschild am Auto an und hört mit der Eingabe persönlicher Daten im Internet auf.

Je älter Kinder sind, desto schwerer fällt Eltern oft der Zugang zu ihnen und dem, was sie beschäftigt. Wie können Väter und Mütter da mit dem Nachwuchs in Kontakt bleiben?

Wittek: Indem sie von Anfang an für ein Klima der Offenheit sorgen und im Dialog mit Söhnen und Töchtern bleiben. Rituale wie das gemeinsame Abendessen schaffen Raum und Zeit, über den Tag mit seinen schönen oder weniger schönen Erlebnissen zu reden. Eltern sollten dabei mit gutem Beispiel vorangehen und auch über Ärger, Frust oder Fehler sprechen. Nur so trauen sich die Kinder auch, über ihre Sorgen oder Ängste zu reden. Statt der Standardfrage „Wie war’s in der Schule?“ – die Antwort darauf lautet ohnehin meist „Gut!“ – sollten Eltern besser nach konkreten Situationen fragen und nachhaken, wenn ihr Kind ausweicht. Wichtig ist auch, nicht zu schimpfen, wenn das Kind etwas Unangenehmes beichtet. Sonst wird es beim nächsten Mal die Moralpredigt fürchten und gar nichts mehr erzählen.

Für den Fall, das trotz aller Vorbeugung ein Kind dennoch von einem unbekannten Täter beraubt oder bestohlen wird – wie sollen Eltern reagieren?

Wittek: Sie sollten auf jeden Fall zur Polizei gehen und eine Anzeige erstatten. Zum einen zeigen Eltern ihren Kindern damit, dass man sich gegen Unrecht wehren kann. Außerdem wird die Polizei einen solchen Vorfall ernst nehmen und bei wiederholten Übergriffen, zum Beispiel, wenn Kinder in Schulnähe zur Herausgabe von Kleidung oder Handys gezwungen werden, verstärkte Präsenz vor Ort zeigen. Tatsächlich ist die Aufklärungsquote dieser Delikte im Gegensatz zur landläufigen Meinung recht hoch. Vorausgesetzt natürlich, dass die Betroffenen tatsächlich Anzeige erstatten und nicht davon ausgehen, dass die Sache sowieso im Sand verläuft.

Und was können Väter und Mütter unternehmen, wenn sie oder ihre Kinder den Täter kennen und nach einer Anzeige Angst vor Racheakten haben?

Wittek: Die Angst vor Rache kann ihnen niemand nehmen. Dennoch wäre es das falsche Signal, klein beizugeben und keine Anzeige zu erstatten. Damit fühlen sich Eltern und Kinder letztlich schwach und hilflos. Zusätzlich lebt die Familie mit der Angst, dass der Täter erneut zuschlagen könnte, weil es für ihn beim ersten Mal so leicht war. Die Erfahrung – auch die der Polizei – zeigt, dass die Drohungen der Täter verpuffen, wenn sich Opfer an die Polizei wenden und die dann eine Strafverfolgung einleitet. Findet eine Nötigung, ein Diebstahl oder Raub zum Beispiel durch einen Schüler auf dem Gelände der Schule statt, sollten die Eltern zudem Lehrer und Schulleitung informieren und zur Handlung auffordern. Wichtig ist, sich nicht abwimmeln oder vertrösten zu lassen. Unternimmt die Schule nichts, können sich betroffene Eltern auch an das Schulamt als übergeordnete Behörde wenden.

Infos, Adressen, Buchtipps

So finden Sie seriöse Anbieter

  • Um Kurse in Ihrer Region zu finden, wenden Sie sich an das Jugendamt oder die Kommissariate der Polizei. Eine Anlaufstelle können auch Schulen sein – viele organisieren Sicherheitstrainings für ganze Klassen.
  • Einrichtungen wie „Wildwasser“ und „Zartbitter“ oder deren Dachorganisation (www.bundesverein.de, Fon 04 31 / 88 88-0 61) helfen Ihnen, die Qualität eines Programms zu beurteilen.
  • Positionspapier der AG Kinder- und Jugendschutz NRW und anderer Einrichtungen: „Selbstsicherheitstrainings für Mädchen und Jungen gegen sexuelle Übergriffe. Woran erkenne ich gute Angebote? Die Position des Kinder- und Jugendschutzes“. Die Broschüre lässt sich unter „Texte“ downloaden oder bestellen: www.ajs.nrw, Fon 02 21 / 92 13 92-0).
  • Broschüre „Selbstsicherheitstrainings für Mädchen und Jungen. Ja! Aber richtig“ gibt es als Faltblatt ebenfalls kostenlos bei der AJS. Allerdings steht sie nicht zum Download bereit.

Adressen: Empfehlenswerte bundesweit agierende Anbieter

CONVA Sicherheitstraining

Fröhlich - Wittek – Franz GbR
Stephanstraße 50
50321 Brühl
Telefon 02232 / 41 08 10
Internet www.conva.de
E-Mail info@conva.de

 

Sicher-Stark-Stiftung e.V.

Bundesgeschäftsstelle
Hofpfad 11
53879 Euskirchen
Telefon 0180 / 555 01 33-3
Internet www.sicher-stark-de
E-Mail info@sicher-stark.de

 

WO-DE-Sicherheitsschulungen

Holger Schumacher
Lütjenseer Straße 18a
22946 Großensee
Telefon 04154 / 994 90 11
Internet www.wo-de.de
E-Mail office@wo-de.info

Buchtipps

  • Rita Messmer: Zu stark für Gewalt: Wie Kinder zu achtsamen Menschen werden. Beltz & Gelberg 2009, 192 Seiten, 14,95 Euro. ISBN 978-3407229120
  • Ursula Fassbender / Holger Schumacher: Starke Kinder wehren sich: Prävention gegen Gewalt: Das Kindersicherheitstraining. Kösel Verlag 2004, 192 Seiten, 16,95 Euro. ISBN 978-3466306459
  • Anne Bischoff / Andreas Schick / Elisabeth Zöller: Unschlagbar – Das Buch, das dich gegen Gewalt stark macht. Fischer Taschenbuch Verlag 2008, 128 Seiten, 12,90 Euro. ISBN 978-3596853205
  • Elisabeth Zöller / Brigitte Kolloch / Sandra Reckers: Stopp, das will ich nicht! Vorlesegeschichten vom Nein sagen und Grenzen-Ziehen. Ellermann Verlag 2007, 28 Seiten, 8,50 Euro. ISBN 978-3770729159