Krank oder nur zappelig?

Hat mein Kind ADHS?

Viele Kinder sind phasenweise oder in bestimmten Situationen zappelig und unaufmerksam. Wann aber besteht Behandlungsbedarf? Nach welchen Kriterien wird heute ADHS diagnostiziert oder ausgeschlossen?

Autor: Petra Fleckenstein

Zappelig und unkonzentriert – eine Frage des Maßes

zwei Frauen Kind Garten
Foto: © Panthermedia.net, Torsten Tracht

Alle Eltern sind mal mehr, mal weniger damit konfrontiert, dass ihr Kind bisweilen unaufmerksam ist, sich nur kurze Zeitspannen auf eine Sache konzentrieren kann und sich von jeder Kleinigkeit ablenken lässt. Kinder, die bei Tisch oft Probleme haben, still zu sitzen und bei Gesprächen selten die Geduld aufbringen abzuwarten, bis andere ihren Satz zu Ende gebracht haben, sind für Eltern ebenfalls ein meist allzu bekanntes Phänomen. Dies alles gehört zur normalen Entwicklung von Kindern dazu und ist phasenweise stärker ausgeprägt und natürlich – Kinder sind ja verschieden – beim einen Kind mehr, beim anderen weniger zu beobachten.

Nun gibt es aber Kinder, die sich so wenig auf eine Sache konzentrieren können, die in fast allen Situationen einen so exzessiven Bewegungsdrang haben und sich in Gesprächen und Spielen so impulsiv und dadurch störend verhalten, dass dies für ihre Umwelt und für sie selbst zu einem dauerhaften Problem wird. Bei keiner Beschäftigung innere Ruhe finden, ständig getrieben sein und von anderen wegen des eigenen dauernd störenden Verhaltens immer und immer wieder ermahnt, kritisiert und abgelehnt zu werden, ist auf Dauer unangenehm und schmerzhaft. Es entsteht, wie es in der medizinischen Fachsprache heißt, Leidensdruck, und das ist der Punkt, an dem es Sinn machen kann, der Sache einmal auf den Grund zu gehen und dem Verdacht nachzugehen, ob es sich bei der Zappeligkeit, Unkonzentriertheit und der Impulsivität des Kindes vielleicht um eine Störung handelt, die über das akzeptable Maß hinausgeht und durch eine Behandlung gelindert werden könnte.

Verdacht auf ADHS – welcher Arzt ist zuständig?

"Besteht bei einem Kind Verdacht auf ADHS, so ist zunächst der Kinderarzt der richtige erste Ansprechpartner", sagt Prof. Gerd Lehmkuhl, Direktor des Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität zu Köln. "Dieser wird dann, falls sich der Verdacht erhärtet, zu einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie überweisen, der eine umfassende und vertiefende Diagnostik vornehmen und - falls erforderlich - die angemessene Therapie einleiten kann." Für ihre Diagnose stehen Kinderärzten und Fachärzten für Kinder- und Jugend-Psychiatrie heute zwei sich ähnelnde Kriterienkataloge zur Verfügung. Der eine ist das internationale Klassifikationsschema der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und trägt die Abkürzung ICD 10, der andere stammt von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung und heißt DSM IV. Beide benennen drei Leitsymptome von ADHS:

  • Aufmerksamkeits – und Konzentrationsstörungen
  • ausgeprägte körperliche Unruhe und starker Bewegungsdrang (Hyperaktivität)
  • impulsives und unüberlegtes Handeln

Diese drei Leitsymptome werden aber noch in zahlreiche Einzelsymptome aufgeschlüsselt (vollständiger Kriterienkatalog am Ende dieses Artikels). Von ADHS kann dann gesprochen werden, wenn mindestens sechs der Symptome für Unaufmerksamkeit, und mindestens jeweils drei der Symptome für Überaktivität und Impulsivität vorliegen. Und dies seit mindestens sechs Monaten, in mindestens zwei Lebensbereichen (also zum Beispiel zu Hause und in der Schule) und: Die Symptome müssen vor dem 7. Lebensjahr begonnen haben.

ADHS feststellen: Diese Untersuchungen müssen sein

Welche Untersuchungsschritte unbedingt dazugehören, um ADHS kompetent zu erkennen oder auszuschließen, ist zum Beispiel auf einer gemeinsamen Konferenz des Bundesministeriums für Gesundheit mit Fachleuten aus der Medizin im Jahr 2002 festgehalten worden und steht auch in den Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Hier die wichtigsten in verkürzter Form:

  • Der Arzt befragt die Eltern und das Kind/Jugendlichen. Je älter das Kind ist, um so stärker wird es in die Befragung einbezogen. Eltern müssen meist einen Elternfragebogen ausfüllen, ältere Kinder und Jugendliche füllen auch ein Selbstbeurteilungsfragebogen aus.
  • Mit dem Einverständnis der Eltern holt sich der Facharzt telefonisch, im persönlichen Gespräch oder auch per Fragebogen Informationen vom Kindergarten oder Schule über das Verhalten des Kindes und die Probleme in diesem Bereich ein.
  • Der Facharzt beobachtet das Verhalten des Kindes während der psychologischen und körperlichen Untersuchungen, die er vornimmt.
  • Bei Schulkindern wird ein Intelligenztest durchgeführt und bei schulischen Problemen außerdem Tests, um mögliche Teilleistungsschwächen, wie eine Lese-/Rechtschreibschwäche zu erkennen. Die müsste dann gesondert von ADHS behandelt werden. Intelligenztests werden u.a. gemacht, um herauszufinden, ob eine schulische Über- oder Unterforderung vorliegt.
  • Eine Blutuntersuchung sollte zeigen, ob die ADHS-Symptome vielleicht durch eine Störung des Schilddrüsenstoffwechsels hervorgerufen werden und durch eine Gehirnstrommessung (EEG) eine andere Erkrankung des Gehirns, die ADHS-Symptome verursachen könnte, ausgeschlossen werden.
  • Der Arzt muss überprüfen, ob zu den ADHS-Symptomen so genannte Begleitstörungen hinzukommen. Dazu gehören zum Beispiel (besonders häufig) Störungen des Sozialverhaltens und Angststörungen, die beim Behandlungsplan mitberücksichtigt werden müssen.
  • Und schließlich muss der Arzt das Umfeld des Kindes nach besonders schwierigen Rahmenbedingungen abklopfen, also wird das Kind misshandelt, lebt es in chaotischen Familienverhältnissen, wird es massiv vernachlässigt?

Der Umgang mit der Diagnose

Wird bei einem Kind ADHS schließlich diagnostiziert, so empfinden Eltern und Kinder dies häufig als große Entlastung, weil für ihr Problem ein Name gefunden wurde, weil sie sich vielleicht nicht mehr schuldig fühlen und weil damit nun eine Aussicht auf Hilfestellungen und Linderung verbunden ist. Allerdings ist bei der Erklärung für das Kind einige Sensibilität geboten. Der Hinweis "In Deinem Gehirn ist etwas nicht ganz in Ordnung" kann, wie man sich denken kann, auch wirken als würde einem jemand mitteilen, man habe einen "Dachschaden". Ebenso ist Fingerspitzengefühl beim Gebrauch des Begriffs "Krankheit" gefragt. Einem Kind einfach zu sagen, es sei krank, kann ebenfalls nicht nur erleichternd, sondern auch bedrückend wirken, wenn es ihm das Gefühl vermittelt, dass mit ihm etwas Grundsätzliches nicht in Ordnung ist. Sinn macht es, so der Kölner Kinder- und Jugendarzt Hans-Helmut Brill vor allem, das Kind ganz konkret bei seinen Erfahrungen "abzuholen". Zum Beispiel: "Du hast ja auch schon gemerkt, dass Du in der Schule oft nicht gut zuhören kannst und dass es Dir schwerfällt, Dich auf Deine Hausaufgaben zu konzentrieren. Das haben übrigens einige Kinder, es gibt aber einiges, was wir machen können, damit das künftig besser klappt."

Liste der Symptome von ADHS

Hier die Liste der Symptome von ADHS nach dem Kriterienkatalog DSM IV der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung:

Erstes Hauptkriterium: Unaufmerksamkeit

Mind. 6 Monate bestanden mind. 6 der folgenden Kriterien:

Die Kinder

  • 1. sind häufig unaufmerksam gegenüber Details oder machen Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten und sonstigen Arbeiten und Aktivitäten
  • 2. sind häufig nicht in der Lage, die Aufmerksamkeit bei Aufgaben und beim Spielen aufrechtzuerhalten
  • 3. hören häufig scheinbar nicht, was ihnen gesagt wird
  • 4. können oft Erklärungen nicht folgen oder ihre Schularbeiten, Aufgaben oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht erfüllen (nicht wegen oppositionellem Verhalten oder weil die Erklärungen nicht verstanden werden können)
  • 5. sind häufig beeinträchtigt, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren
  • 6. vermeiden ungeliebte Arbeiten, wie Hausaufgaben, die geistiges Durchhaltevermögen erfordern
  • 7. verlieren häufig Gegenstände, die für bestimmte Aufgaben oder Tätigkeiten wichtig sind, z.B. Unterrichtsmaterialien, Bleistifte, Bücher, Spielsachen und Werkzeuge
  • 8. werden häufig von externen Stimuli (= äußeren Reizen) abgelenkt
  • 9. sind im Verlauf der alltäglichen Aktivitäten oft vergesslich.

Zweites Hauptkriterium: Überaktivität

Mind. 6 Monate bestanden mind. 3 der folgenden Kriterien

Die Kinder

  • 1. zappeln häufig mit Händen und Füßen oder winden sich auf den Sitzen
  • 2. verlassen ihren Platz im Klassenraum oder in anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird
  • 3. laufen häufig herum oder klettern exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen entspricht dem möglicherweise nur ein Unruhegefühl)
  • 4. sind häufig unnötig laut beim Spielen oder haben Schwierigkeiten, sich ruhig mit Freizeitbeschäftigungen zu befassen
  • 5. zeigen ein anhaltendes Muster exzessiver motorischer Aktivitäten, die durch die soziale Umgebung oder Vorschriften nicht durchgreifend beeinflussbar sind.

Drittes Hauptkriterium: Impulsivität

Mind. 6 Monat bestanden mind. eines der folgenden Kriterien

Die Kinder

  • 1. platzen häufig mit der Antwort heraus, bevor die Fragen beendet sind
  • 2. können häufig nicht in einer Reihe warten oder warten, bis sie bei Spielen oder in Gruppensituationen an die Reihe kommen
  • 3. unterbrechen und stören andere häufig (z.B. mischen sie sich ins Gespräch oder Spiel anderer ein)
  • 4. reden häufig exzessiv, ohne angemessen auf soziale Beschränkungen zu reagieren
  • .

Zusatzkriterium: ‚Erstmaliges Auftreten’
Die Störung muss vor dem siebten Lebensjahr erstmalig aufgetreten sein

Zusatzkriterium: ‚Setting-Kriterium’
Die Störung muss situationsübergreifend d.h. in mehr als einem Setting (Familie, Schule, Untersuchungssituation) auftreten.

Zusatzkriterium: ‚Zeitstabilität’
Die Störung muss über mindestens sechs Monate bestehen.

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