Ein Auslaufmodell?

Im Turbogang durch die Kindheit

Schon Babys tragen coole Jeans statt Strampler, Dreijährige lernen Reiten, Achtjährige kennen alle Texte der aktuellen Charts auswendig, zehnjährige Mädchen eilen geschminkt zur Grundschule: Dürfen unsere Kinder noch Kind sein?

Autor: Gabriele Möller

Mit Lichtgeschwindigkeit durch die Kindheit

kleiner Junge schick Sonnenbrille
Foto: © iStockphoto.com, Gewitterkind

Es scheint, dass mit dem Start ins 21. Jahrhundert auch unsere Kinder den Warp-Antrieb entdeckt haben. Geradezu mit Lichtgeschwindigkeit rasen sie durch die Kindheit: Babys tragen coole Jeans statt Strampler, Dreijährige lernen Reiten, Achtjährige kennen alle Texte der Songs aus den aktuellen Charts auswendig, und schon mit zehn sieht man Mädchen in Teenie-Klamotten und geschminkt zur Grundschule eilen. Und ob Sex, Gewalt oder Krieg – immer mehr Kinder sind von klein auf aus dem Fernsehen bestens über sämtliche Erwachsenen-Themen informiert. Manche Wissenschaftler sprechen sogar schon vom Verschwinden der Kindheit. Wie aber kommt es, dass die Kindheit sich zunehmend verkürzt oder gar aufzulösen beginnt? Und wie können wir Eltern gegensteuern?

Ist die Kindheit vom Aussterben bedroht?

Der us-amerikanische Wissenschaftler Neil Postman warnte früh, dass Kindheit keineswegs ein naturgegebener Zustand sei, sondern eine Erfindung der Neuzeit - sie könne daher ebenso auch wieder verschwinden. Noch im Mittelalter hatte man Kinder wie kleine, unfertige Erwachsene behandelt: Sie mussten arbeiten, trugen dieselbe Kleidung wie die Großen und hatten keinen Anspruch auf Spiel oder Förderung. Erst im 18. Jahrhundert begann man zu verstehen, dass Kinder eigene Bedürfnisse haben, eine kindgerechte Erziehung und besonderen Schutz benötigen.

Danach kam die Epoche einer relativ unbeschwerten Kindheit, die sich fast nur draußen abspielte. Man traf sich täglich, es wurde „Räuber und Gendarm“ oder Fußball gespielt, Äpfel aus Nachbars Garten gestohlen und Abenteuer erdacht. „Straßenkindheit“ nennen Soziologen diese aussterbende Lebensform, bei der Kinder weitgehend unbeobachtet ihre Umgebung erschlossen. Heute haben die meisten Kinder eine „verhäuslichte“ Kindheit – nicht zuletzt wegen des Straßenverkehrs. Auch die Berufstätigkeit der Eltern macht oft eine ganztägige Betreuung in Einrichtungen erforderlich. Kinder verlassen die vier Wände nur noch, um (von Erwachsenen organisierten) Hobbys nachzugehen und sich mit Freunden (nach Verabredung) zu treffen.

Das Fernsehen nagt an der Kindheit

Niklas (Name geändert) wohnt mit seinen Eltern in Wuppertal in einem Mehrfamilienhaus am Rande eines Naturschutzgebiets. Im Haus wohnen noch viele andere Kinder. Dennoch verlässt der Neunjährige auch bei schönstem Wetter fast nie die Wohnung. Seine Eltern arbeiten ganztags, und er verbringt die Freizeit allein vor dem TV oder mit seiner X-Box. Die Jahreszeiten haben kaum Bedeutung für ihn. Er klettert nicht auf Bäume, tobt nicht im Herbstlaub, fährt im Winter nicht Schlitten. Wenn er erzählt, sind es die Figuren der Scheinwelten aus TV und PC, die seine Gedanken besetzen. Er sieht Nachrichtensendungen, die niemand mit ihm bespricht. Er wirkt unfroh, gibt sich aber cool und glaubt, über alles auf der Welt schon Bescheid zu wissen. Seine Mutter ist stolz darauf, dass er schon so viel verstehe und „weiter“ sei als andere Kinder.

Die erwähnte „Verhäuslichung“ liefert Kinder nicht selten dem größten Feind der Kindheit aus: Dem Fernseher. Der sorgt dafür, dass sie kaum noch echte Erlebnisse haben, sondern Erfahrungen aus zweiter Hand konsumieren. Dr. Susanna Roux von der Universität Koblenz-Landau bringt es auf den Punkt: „Fernsehen und Co sind als ‚elektronische Großmutter’ zu einem vollwertigen Familienmitglied geworden.“ Und Neil Postman betont, wie sehr das Fernsehen die Trennungslinie zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt verwässere. Denn was die Kinder sehen, ist oft nicht für Kinder gemacht. Sie erfahren Dinge, die früher reines Erwachsenen-Wissen waren. Ihr Bedürfnis nach kindgerechtem Schonraum, nach teilweisem Nicht-Wissen, wird untergraben.

Der Fernsehkonsum schadet dem Fortbestand der Kindheit aber auch indirekt. Denn wo im TV Schamgrenzen fallen, Intimes breitgetreten wird, Vieles sich ums Aussehen und Kaufen dreht und alles, vom Bürgerkrieg bis zur Hungersnot, zur Unterhaltung verkommt („Infotainment“), da purzeln die Werte - und zu denen gehört auch die Vorstellung einer schützenswerten Kindheit.

Die Pubertät kommt immer früher

Auch die Natur selbst hat es eilig: Heute haben Mädchen mit etwa zwölf Jahren ihre erste Periode, Jungen im selben Alter ihren ersten Samenerguss (1980 noch 14 Jahre). Und bereits mit zehn zeigen sich bei beiden die ersten körperlichen Veränderungen. Ursachen sind die bessere Ernährungslage einerseits, aber auch der zunehmende Fast-Food-Konsum auf der anderen Seite. So erreichen Kinder heute rascher ihre endgültige Körpergröße. Zum anderen regt das Hormon Leptin, das in den Fettzellen gebildet wird, die Produktion der Geschlechtshormone an. Daher spielt auch Übergewicht eine Rolle. Die seelische Entwicklung hinkt aber der körperlichen meist weit hinterher.

Kindheit: Nie war sie so wertvoll wie heute

Nach diesen beunruhigenden Beobachtungen erheben nun viele Eltern Einspruch – zu Recht: Sind uns nicht unsere Kinder heute so wichtig wie nie zuvor? Und tun die meisten Eltern nicht wirklich alles, um ihre Kinder altersgemäß und optimal zu fördern? Pessimisten wie Neil Postman berücksichtigen tatsächlich diese Seite der „neuen Kindheit“ zu wenig: Nie gab es so viele verschiedene, kindgerechte Angebote. Nie vorher wurden gesunde, aber auch entwicklungsverzögerte oder behinderte Kinder so gut gefördert, wie heute. Konnte man früher kaum verhindern, Kinder zu bekommen, sind nun die meisten Kinder geplant. Waren sie einst dringend benötigte Arbeitskräfte, sehen wir sie heute als große Bereicherung und Glück an. Wir fragen sie nach ihrer Meinung, lassen sie mitbestimmen und verbringen möglichst viel Zeit mit ihnen. Und: Wir denken viel mehr über die richtige Erziehung nach.

Erziehung – ein Fall nur für Experten?

Hier gibt es manchmal jedoch auch ein Zuviel des Guten. Und schon unken die Wissenschaftler erneut: Zuviel Aufhebens um die Frage der richtigen Erziehung und der Förderwahn, dem viele Eltern verfallen, seien ebenfalls schlecht. Von einer Pädagogisierung und Expertisierung der Kindheit ist da die Rede. Will heißen: Wir Eltern trauen uns kaum noch eigene Ideen und Urteile über die Bedürfnisse unserer Kinder zu, sondern vertrauen lieber Fachleuten und Büchern. Gleichzeitig „über-fördern“ wir unsere Kinder - aus Angst, sie könnten den Anforderungen der Leistungsgesellschaft nicht gewachsen sein.

Kindheit als geschützter (Frei-)Raum

Weder die Medienverwahrlosung von Kindern auf der einen, noch der Förder- und Terminwahn auf der anderen Seite können unsere Kinder fit fürs Leben machen und ihnen zugleich Unbeschwertheit und schöne Erinnerungen verschaffen – und das ist es doch, was wir Eltern uns für sie wünschen. Es gilt also, einen eigenen Weg zu finden - zur Not auch gegen den Mainstream. Und so retten wir unseren Kindern ein Stück Kindheit:

  • Keine Angst vor Benachteiligung
  • Wenn man hört, dass das vierjährige Kind der besten Freundin gerade das „Seepferdchen“ geschafft hat, stellt man sich schon fast reflexhaft die Frage, warum man dies eigentlich seinem eigenen, armen Kind bisher vorenthalten hat. Ist es nicht viel sicherer, ein Kind kann möglichst früh schwimmen? Wird es nicht traurig sein, wenn seine Freunde ihr Abzeichen vorzeigen? Und schon vereinbart man einen Termin für den Schwimmkurs. Jetzt ist es Zeit für die Notbremse: Schwimmen (oder auch Reiten) erfordert viel motorische Reife. Diese haben viele Kinder erst mit fünf. Vorher verlieren sie oft schnell die Lust, haben Angst (vor dem Wasser oder nach dem ersten Sturz) oder brauchen sehr lange, um die Fähigkeit zu erwerben. Leicht gerät ein solcher Kurs zum Misserfolgserlebnis oder zur ungeliebten Pflicht. Weinende Kinder am Beckenrand sind bei Schwimmkursen ein häufiger Anblick. Daher gilt: Wer später beginnt, ist auf der sicheren Seite.

  • Kontrolle mit Augenmaß
  • Wenn Eltern ihr Kind zu möglichst vielen Terminen fahren, hat dies oft noch einen weiteren Grund: Man weiß dann genau, was das eigene Kind wo und mit wem macht. Das beruhigt mehr, als wenn es draußen spielt und man ständig besorgt aus dem Fenster schauen muss. Dennoch rät der Schweizer Kindheitsforscher Dr. Remo Largo, den Aktionsradius des Kindes unbedingt altersgemäß und stetig zu erweitern. Dem Kind also zuzutrauen, dass es selbstständig und auch unbeobachtet seine Welt erkundet. Wir müssen unserem Kind irgendwann glauben, dass es dabei unsere Ermahnungen beherzigt.

  • Der Bequemlichkeit ein Schnippchen schlagen
  • Hand aufs Herz: Manchmal sind TV und Playstation wirklich praktische Babysitter. Die Kinder sitzen schweigend davor, streiten nicht, produzieren kein Chaos und man kann ungestört den Haushalt erledigen. Für eine halbe Stunde ist dies sicher kein Problem. Wird es zuviel, bezahlt man für das Idyll aber einen hohen Preis. Denn die fast unerschöpfliche Energie, die Kinder haben, kann so nicht ausgelebt werden. Und auch bei „Kika“ und Co sind die Figuren vieler billiger Zeichentrickfilme oft fast psychopathisch angelegt. Die Folge von zuviel Bildschirmkonsum sind reizbare, sprachverzögerte, unzufriedene (und damit auf Dauer: schwierige) Kinder.

  • Schonräume schaffen
  • Kinder müssen auch nicht mit sechs Jahren wissen, wie zerbombte Häuser und Kriegstote aussehen. Psychologen warnen, dass sie diese Bilder nicht verarbeiten können. Sie spuken im Unterbewusstsein herum und lösen Ängste oder Abstumpfung aus. Kinder sollten erst ab zehn Jahren Nachrichten sehen. Magazine für Kinder („Logo“) verzichten auf drastische Bilder, erklären kindgerecht und sind früher geeignet. Auch für Spiel- und Kinofilme gilt: Man sollte sich nicht auf die Altersfreigaben der Filmindustrie verlassen. Deren „freiwillige Selbstkontrolle“ (FSK) setzt die Grenzen oft zu niedrig an, denn hier geht es ums Geld. Filme ab sechs oder zwölf können daher auch im angegebenen Alter Albträume und Ängste auslösen. Auch, was unser Kind bei Freunden schaut, sollten wir Eltern im Auge behalten.

  • Konsum mit Köpfchen
  • Manchmal meinen wir Eltern es auch schlicht zu gut. Gar nicht früh genug können wir unserem Kind all geben, was das Leben zu bieten hat. Dies gilt auch für Statussymbole. Hier gibt es schon für die Kleinsten „Musthaves“. Ein Beispiel ist die Un-Mode des Hochbetts, das inzwischen die Mehrzahl der Zimmer erst Dreijähriger ziert. So unermüdlich wie vergeblich warnt der Verband der Deutschen Unfallchirurgen, dass durch Hochbetten (auch halbhohe) alljährlich Kinder zu Tode kommen oder schwerst verletzt werden. Und dass sie sich erst ab acht bis zehn Jahren eignen. Aber auch bei harmloseren Moden darf man die Sinnfrage stellen: Muss bereits ein Klein- oder auch Grundschulkind Ohrlöcher haben? Muss es einen Fernseher im Zimmer haben, und reicht nicht statt einer kompletten Hifi-Anlage ein Kinder-Recorder für Hörspielkassetten und kindgerechte Musik?

    Apropos Musik: Auch wenn schon die Jüngsten auf Pop abfahren, haben sie dennoch Gefallen an altersgemäßen Klängen. Legt man eine der Musical-CDs von „Ritter Rost“ ein, staunt man, wie begeistert auch altkluge „Kinderkram“-Verächter sind. Und wieder wird deutlich: Kinder sehnen sich nach Dingen, die nur für sie da sind. Wie weit der Kommerz aber bereits dabei ist, die Kinderwelt zu zersetzen, zeigt auch die Mode: Für fünfjährige Mädchen sind nur schwer Hosen über Hüfthöhe und ohne Schlag zu bekommen. Und ein bekanntes Versandhaus nahm jüngst erst nach Protesten von Kinderschützern String-Tangas für Kleinkinder aus dem Programm.

  • Mut zum Erwachsensein
  • Die Trennlinie zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt wird auch aus noch einem anderen Grund unscharf: dem Jugendlichkeitswahn von uns Erwachsenen. Soziologen sprechen sogar von einer Infantilisierung (Verkindlichung) der Gesellschaft: Es gilt als schick, sich auch mit über 40 zu kleiden wie ein Teenager, sich möglichst flippig zu gebärden, dieselbe Musik zu hören wie der Nachwuchs und überhaupt möglichst „ein großes Kind“ zu bleiben. Durch mehr Bekenntnis zur Reife helfen wir unseren Kindern, ihre eigene Welt von unserer abzugrenzen. Dazu gehört auch, dass wir Kinder zwar mitreden lassen, bei wichtigen Dingen aber Mut zum letzten Wort haben.

Ein Stück heile Welt erhalten

Kinder brauchen und wollen also einen geschützten Raum, in dem sie sich sicher bewegen und auch mal unbeobachtet sein dürfen. Sie wollen nicht allzu früh das Schwere der Welt auf ihren schmalen Schultern und in ihren unfertigen Seelen mittragen müssen. Sie wollen nicht wie kleine Erwachsene behandelt werden und haben Anspruch auf ein gewisses Maß an heiler Welt. Natürlich müssen wir die Kinder auch an unangenehme Wahrheiten heranführen, aber altersgemäß und nicht mit dem Holzhammer. Mit zuviel Entscheidungsfreiheit sind sie – wie beim Medienkonsum – überfordert.

Wir Erwachsenen brauchen die Uhr dabei nicht zurückzudrehen. Unsere Kinder dürfen ruhig auch „cool“ sein und ein paar aktuelle Trends mitmachen. Jeder kann aber dem eigenen Kind dabei helfen, einen ganz persönlichen Schatz an authentischen Erlebnissen fürs Leben zu sammeln. Und seine Seele mit guten Bildern bereichern helfen, die Geborgenheit geben. Dazu gehören für jüngere Kinder Märchen und Mythen. Dazu gehört, Fernsehsendungen konkret auszuwählen und mit dem Kind darüber zu sprechen. Dazu gehört ruhig auch Bewährtes, wie etwa die Figuren der Kinderbücher Astrid Lindgrens, die garantiert mehr bereichern als ein hektischer „Schwammkopf“. Dazu gehört das große Angebot an Kindermusik jenseits von Kommerz-Kinderpop. Und dazu gehört vor allem: mit Kindern soviel wie möglich gemeinsam zu unternehmen.

Lesetipps

Neil Postman, Das Verschwinden der Kindheit, S.Fischer 1983.

Klaus Hurrelmann, Einführung in die Kindheitsforschung, Beltz 2003.