Interview mit Heidemarie Brosche

Jungs sind Jungs - und das ist gut!

Die renommierte Buchautorin und Lehrerin Heidemarie Brosche wurde von Bekannten für ihre drei Söhne geradezu bemitleidet. Wir fragten sie, was sie an Jungs schätzt und warum es Jungs heute oftmals ganz schön schwer haben.

Autor: Antje Szillat

Typische Jungs-Eigenschaften immer weniger gefragt

Junge auf Schaukel

Michel aus Lönneberga ist ein richtiger Rotzbengel, der nichts als Dummheiten im Schilde führt, Tom Sawyer und Huckleberry Finn sind ausgekochte Schlitzohren, mit allen Wassern gewaschen, und der kleine Nick rauft und prügelt sich am liebsten von morgens bis abends mit seinen Kumpanen herum. Eben echte freche, rotzige, wilde Kerle! Weltweit haben sie mit ihren Geschichten, ihren Streichen und Abenteuern die Menschen begeistert, amüsiert und in ihren Bann gezogen.

Nun mal angenommen, der Stefan aus der 3. Klasse benimmt sich wie Michel oder der achtjährige Jan Torben tritt in die Fußstapfen des kleinen Nick oder Justin und Timo beschließen, sich genauso wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn aufzuführen. Würden dann wohl die Erwachsenen - die Lehrer, Erzieher, Eltern - genauso amüsiert und begeistert sein, wie sie es von den fiktiven Figuren der Erfolgsautoren Lindgren, Twain und Goscinny sind?

Wohl kaum! Ihre Streiche und Abenteuerlust würde uns sicherlich bald an unsere Grenzen bringen. Und dennoch gehören gerade diese Eigenschaften zu den Dingen, die uns an unseren Jungs so gut gefallen – und auch gefallen sollten! Jungs sind selbstbewusst, draufgängerisch, sensibel und - wie sie in einer Studie* selbst von sich behaupten - stärker, schneller, größer und mutiger, als Mädchen. Jungen spielen Fußball, klettern auf Bäume und sind besser im Sport. Sie verfügen über gute technisch-praktische Fähigkeiten und sind die geborenen Forscher. Auf den Punkt gebracht: Jungs sind wie Jungs und das ist auch gut so!

Von der Lehrerin, renommierten Buchautorin und Mutter dreier Jungen, Heidemarie Brosche**, die sich unter anderem für ihr neues Buchprojekt „Warum es nicht so schlimm ist, in der Schule schlecht zu sein – Schulschwierigkeiten gelassen meistern“ intensiv mit dem Thema Jungen beschäftigt hat, wollten wir erfahren, wie es denn nun wirklich um die Jungs von heute steht.

Jungs sind begeisterungsfähig und zupackend

Was gefällt Ihnen an Jungen besonders gut? Wo sehen Sie ihre Stärken und positiven Eigenschaften?

Brosche: Da ich „nur“ Jungs habe, bin ich natürlich begeistert von ihnen. Aber mir fehlt eben auch der Vergleich als Mutter. In der Schule versuche ich – gerade weil ich von meinen Söhnen öfter mal gehört habe, wie sehr die Mädchen bevorzugt werden – das Positive an den Jungen zu sehen. Das Begeisterungsfähige, das Ungestüme, die Bereitschaft zur mündlichen Mitarbeit, das Zupackende. Auch, dass sie weniger als Mädchen „herumzicken“, dass man mal Klartext mit ihnen reden kann, ohne dass sie beleidigt reagieren.

Ein Junge, der sich in der heutigen Zeit wie beispielsweise Astrid Lindgrens berühmter Michel benehmen würde, fände sich garantiert sofort in der Schublade "schwererziehbar und verhaltensauffällig" wieder, oder?

Brosche: Na ja, ich denke, das war schon immer so: Was aus einer gewissen Distanz betrachtet unterhaltsam und liebenswert wirkt, ist für die unmittelbar Betroffenen, also die Eltern und Lehrkräfte, nicht so witzig. Sprich: Der Michel hatte ja ständig Probleme mit den Erziehenden, und trotzdem oder gerade deswegen war sein Verhalten für die LeserInnen amüsant. Ich spüre das auch am eigenen Leib immer wieder: Schüler, die mich im Unterricht durch ihre Lebhaftigkeit, ja auch durch ihre Unbeherrschtheit „behindern“, haben oft ein wunderbares Unterhaltungspotential. Dass ich das überhaupt sehen kann, freut mich. Dass ich es während des Unterrichts besonders wertschätze, wäre gelogen.

Warum geraten Jungs in der Schule ins Hintertreffen?

Als Mutter und als Lehrerin: Sind Jungs wirklich die "Verlierer" des heutigen Schulsystems und woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Brosche: Verlierer? Das klingt schon sehr hart. Andererseits: Bereits 60 Prozent der Kinder, die von der Einschulung zurückgestellt werden, sind Jungen. Jungen sind diejenigen, die häufiger eine Klasse wiederholen. Und etwa in der neunten Klasse haben 35 Prozent der Jungen eine verzögerte Schullaufbahn, aber nur 24 Prozent der Mädchen. Das kann man einfach nicht übersehen.

Als Gründe lassen sich so einige nennen. Ich zähle hier mal eine ganze Liste auf, wobei diese Gründe natürlich nicht immer und auf alle zutreffen:

  • Mädchen fällt es in der Regel leichter, ruhig zu sitzen und durch eine freundliche Art gefällig zu wirken.
  • Unterricht ist meist sehr textlastig, was den besseren sprachlichen Fähigkeiten der Mädchen entgegenkommt. Jungen dagegen wollen eher ausprobieren, handeln.
  • Unterricht ist heute im Gegensatz zu früher nicht mehr so hierarchisch und von genauen Vorgaben geprägt, sondern das Lernen erfordert mehr Flexibilität, was weiblichen Wesen angeblich leichter fällt.
  • Viele alleinerziehende Mütter, kaum männliche Erzieher im Kindergarten, kaum männliche Lehrkräfte in der Grundschule – das hat zur Folge, dass männliche Vorbilder fehlen.
  • Umgekehrt trumpfen die männlichen Vorbilder, die die Medien den Jungs bieten, oft durch Coolness und Dominanzgebaren auf.
  • Lebendigkeit, Wettkampfgeist und Risikofreudigkeit der Jungen rufen bei den Lehrkräften – vor allem bei den weiblichen - eher negative Gefühle hervor.
  • Gerade bei den Jungen sind die Entwicklungsunterschiede groß.

In den Kindergärten und Grundschulen sind männliche Pädagogen Mangelware. Die Erziehung der Jungs liegt zum größten Teil fest in weiblicher Hand. Was hat das für Auswirkungen auf die Entwicklung der Jungen?

Brosche: Die Jungen erleben sich mit dem, wie sie halt einfach sind, als falsch. Sie haben selten jemanden vor sich, der Autorität ausstrahlt, den sie respektieren und an dem sie sich positiv orientieren können. Einen Menschen, der ihnen zeigt: Ich bin ein Mann und das ist gut so und das muss noch lange nicht heißen, dass ich mich deshalb wie ein Macho aufführe. Einen Menschen, der ihnen zeigt, wie man „das typisch Männliche“ sinnvoll einbringt.

Stimmt es, dass Mädchen in der Regel, bei gleicher Leistung, besser benotet werden. Ganz einfach deshalb, weil sie (gerade im Grundschulalter) angepasster und "pflegeleichter" sind?

Brosche: Ich hoffe natürlich, dass meine KollegInnen und ich dies nicht tun. Dennoch legen Untersuchungen nahe, dass es stimmt. Dies läuft ja in den allermeisten Fällen nicht auf einer bewussten Ebene, und das macht es so schwierig.

Mitleid beim dritten Sohn

Etwas provokant gefragt: Früher wünschten sich Eltern unbedingt einen Stammhalter - heute kann man immer öfter von Eltern hören "Lieber ein Mädchen. Mit denen hat man nicht so viel Ärger und die haben es später auch leichter in der Schule!". Ist das Ihrer Meinung nach völlig aus der Luft gegriffen oder ist da vielleicht wirklich etwas dran?

Brosche: Als ich mein drittes Kind – heute zwölf – erwartete, bekam ich von allen Seiten zu hören: Jetzt kommt bestimmt das Mädchen. Das klang jedes Mal so, als wolle man mir sagen: Jetzt kommt endlich die Belohnung. Und als dann klar war, dass es wieder ein Junge werden würde, sagte mir eine Bekannte, die selbst zwei Söhne und keine Tochter hatte, knallhart ins Gesicht: „Ihnen bleibt auch nichts erspart.“ Ich kann nicht sagen, dass das sehr ermutigende Äußerungen waren. Dennoch haben wir uns natürlich auch auf dieses dritte Kind ohne die geringste Einbuße gefreut, einfach als „Kind“. Nun kann ich selbst ja nicht vergleichen. Aber von vielen anderen Eltern habe ich sinngemäß den Ausspruch gehört: „Mit unseren Töchtern hatten wir keine Probleme in der Schule. Aber der Junge...“ Was unsere Söhne angeht, muss ich zugeben, dass sie alle drei keine leidenschaftlichen Schüler waren bzw. sind. Ihre eigenen Interessen waren/sind ihnen einfach wichtiger.

In Kinderjahren gelten Jungen heutzutage als benachteiligt. Dennoch haben sie als Erwachsene in der Regel die "besseren" Jobs und eindeutig die bessere Bezahlung. Wie ist das möglich? Müssen wir uns vielleicht doch nicht so große Sorgen um das inzwischen "schwache" männliche Geschlecht machen?

Brosche: Ich muss zugeben, dass ich in diesem Punkt höchst zwiegespalten bin. Als Frau spüre ich Empörung über die Ungerechtigkeit in der Arbeitswelt. Als Mutter dreier Söhne fühle ich Erleichterung – so in dem Sinne: Sie werden ihren Weg trotzdem gehen. Wie viele Sorgen wir uns machen müssen, weiß ich nicht. Wir können ja jetzt noch gar nicht wissen, wie sich die Jungen von heute später bewähren. Bewähren nicht nur im Beruf, sondern auch in der Partnerschaft, ja im ganzen Privatleben.

Jeden Menschen das sein lassen, was ihn ausmacht

In Ihrem neusten Buch „Warum es nicht so schlimm ist, in der Schule schlecht zu sein – Schulschwierigkeiten gelassen meistern“, das Ende Juli im Kösel-Verlag erscheint, haben Sie sich mit "Schulversagern" beschäftigt, aus denen als Erwachsene trotzdem etwas geworden ist. Haben Sie bei Ihren Recherchen einen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen feststellen können und wie verschieden haben sich die beiden Geschlechter entwickelt?

Brosche: Ich habe keine Strichliste geführt, aber ich erinnere mich an weitaus mehr männliche Wesen, die in der Schule Schwierigkeiten verschiedenster Art und Ausprägung hatten und „es“ dennoch schafften.

Wie soll aus Jungen, von denen in Kinderjahren erwartet wird, dass sie lieber ein paar Eigenschaften der Mädchen annehmen sollten, das starke männliche Geschlecht werden? Oder ist das sogenannte starke männliche Geschlecht sowieso ein Auslaufmodell?

Brosche: Stark oder nicht stark – wesentlich scheint mir zu sein, dass man jedem Menschen das lässt, was ihn ausmacht. Und dass man ihn nicht zu etwas machen möchte, was er gar nicht ist. Jungen also bewusst zu Softies erziehen zu wollen, halte ich für falsch. Aber einen Jungen, der von sich aus weichere, „mädchenhaftere“ Wesenszüge hat, zu einem harten Kerl formen zu wollen, ebenso. Meiner Meinung nach – ich kann mich natürlich täuschen, aber ich bin schon ganz schön sicher – finden in jeder Gesellschaft, in der Arbeitswelt, in der Familie ... sowohl die härteren als auch die weicheren Menschen ihren Platz. Vielleicht sollten wir uns daran gewöhnen, dass eine Frau, die entsprechend gestrickt ist, als harte Kämpferin erfolgreich agieren kann und dass ein Mann, wenn es denn seine persönliche Art ist, ein sensibler Mensch mit hoher Sozialkompetenz sein kann. Und dass es am besten ist, wenn jeder von allem etwas hat. Dass es ganz normal ist, dass die einzelnen Anteile verschieden hoch vertreten sind.

Können Sie als Mutter von drei Jungen im Alter von 21, 19 und 12 Jahren den Eltern von heute, die sich ständig Sorgen um "ihren Jungen" machen, einen Erziehungstipp geben oder gibt (oder sollte es keinen geben) es keinen Unterschied zwischen der Erziehung eines Mädchen und einen Jungen?

Brosche: Wie gesagt, das Wichtigste scheint mir nach all meinen Erfahrungen zu sein, dass man den Menschen und damit auch den Jungen annimmt, wie er ist, ihn aber von Elternseite freundlich und bestimmt begleitet. Vielleicht sollte man sich sogar einen Zettel in die Küche hängen: Ich werfe meinem Sohn nicht vor, dass er ist, wie er ist. Ich bemühe mich immer wieder, das Positive im negativ wirkenden Verhalten zu sehen. Ein Beispiel, wie ich das meine: Wenn mein Sohn sehr durchsetzungsfreudig und elterlichem Rat gegenüber eher resistent ist, bemühe ich mich, neben allem Frust die Stärke zu sehen, die hinter diesem Verhalten steckt und die ihm fürs Erwachsenenleben auch helfen wird. Wenn mein Sohn sich nicht darum schert, ob er bei der Lehrerin beliebt ist, wenn er weiß, wie er sich einschmeicheln kann, es aber dennoch nicht tut, dann versuche ich die Charakterstärke zu sehen und mich daran zu erfreuen, auch wenn dieses Verhalten im Moment nicht der einfachste Weg ist.

Sie schreiben ja nicht nur Bücher über Erziehung, sondern auch Kinderbücher. Wählen Sie da als Identifikationsfigur lieber einen Jungen oder ein Mädchen?

Brosche: Das ist gar nicht so einfach. Als Frau erinnere ich mich natürlich sehr gut an das kleine Mädchen mit all seinen Sorgen und Nöten, das ich mal war. Als Jungenmutter sind mir die Sorgen und Nöte der Jungen besonders nah. Ich versuche deshalb tatsächlich, beiden Geschlechtern gerecht zu werden und fühle mich manchmal wie ein Doppelwesen. Aus der einen Sicht ist da dieses sensible Mädchen, das von Rabauken-Kerlen traktiert wird, aus der anderen diese überempfindliche Mimose, die es nicht aushält, dass man ganz normal mit ihr umgeht. Im Geiste habe ich schon folgendes Zeitreise-Experiment unternommen: Wenn ich heute Mädchen wäre, wie wären meine Söhne mit mir ausgekommen? Wie hätten sie über mich gedacht? Wie hätte ich sie empfunden? Ergebnis des Experiments? Ungewiss! Ich befürchte aber, ich wäre meinen Söhnen zu sehr „typisches Mädchen“ gewesen.

*Studie „Die Welt mit den Augen der Kinder betrachten“ von Dr. Renate Valtin, Professorin für Allgemeine Grundschulpädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin.

**Die engagierte Hauptschullehrerin und Autorin hat 1988 ihr erstes Buch veröffentlicht. Seitdem versucht sie, den Alltag im Klassenzimmer schreibend zu verarbeiten, dazu gibt es sogar eine Sendung im Bayerischen Rundfunk. Mehr über Heidemarie Brosche und ihre Bücher unter www.h-brosche.de.

Buchtipps

Jungen – wie sie glücklich heranwachsen!
Von Steve Biddulph
Heyne Verlag, 8,95 Euro
ISBN-10: 3453214951
ISBN-13: 978-3453214958

Jungen - Was sie vermissen, was sie brauchen. Ein neues Bild von unseren Söhnen
Von William F. Pollack
Beltz Verlag, 16, 95 Euro
ISBN-10: 3407228376
ISBN-13: 978-3407228376

Jungen sind anders, Mädchen auch: Den Blick schärfen für eine geschlechtergerechte Erziehung
Von Melitta Walter
Kösel Verlag, 15,95 Euro
ISBN-10: 3466306892
ISBN-13: 978-3466306893

Kleine Helden in Not: Jungen auf der Suche nach Männlichkeit
Von Dieter Schnack
Rowohlt Verlag, 8,95 Euro
ISBN-10: 3499609061
ISBN-13: 978-3499609060