Gewalt in der Erziehung

Wenn Eltern ihre Kinder schlagen

Warum schlagen Eltern ihre Kinder? Oft aus reiner Hilflosigkeit, so weiß eine Familienberaterin zu berichten. urbia-Autorin Susanne Kailitz schildert den Fall einer Mutter, der es gelang, die Gewalt zu durchbrechen und sich Hilfe gegen die Hilflosigkeit zu suchen.

Autor: Susanne Kailitz
Kind Angst Gewalt
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Am Wochenende sah Tanja Buchmann (Namen der Familie geändert) regelmäßig rot. „Ich war von morgens bis abends mit den Kindern zusammen und die haben einfach nicht gehört. Der Kleine hat mit dem Essen geworfen und der Große war rotzfrech. Irgendwann bin ich dann ausgerastet." Ausrasten, das hieß: Schläge. „Am Anfang war das noch ein Klapps auf die Hand, wenn Bastian im Essen gematscht hat. Oder ich hab Theo doll am Arm gepackt, wenn er sich geweigert hat, sein Zimmer aufzuräumen." Doch je weniger ihre „Erziehungsmethoden" fruchteten, desto frustrierter wurde die 27-Jährige. „Irgendwann war es dann so weit, dass ich ihnen regelmäßig eine geknallt habe; ins Gesicht oder auf den Hinterkopf."

Je mehr die Situation daheim eskalierte, desto größer wurde die Angst, ihr Verhalten könne Konsequenzen haben. „Ich hatte solche Angst, dass hier irgendwann das Jugendamt steht und mir die Jungs wegnimmt." Wo sie Hilfe bekommen könnte, wusste die Leipzigerin nicht - ihre beiden Söhne zieht sie seit Jahren allein groß. Den Vater haben der dreijährige Bastian und der fünfjährige Theo schon lange nicht mehr gesehen, einen Freundeskreis hat die Alleinerziehende schon lange nicht mehr. Zu ihren Eltern hat die Kassiererin kaum Kontakt. „Wenn ich dann wieder diesen Frust hatte, dass mein Leben irgendwie nichts mit dem zu tun hatte, was ich mir früher mal ausgedacht habe und dann die Kinder gesehen habe, dachte ich oft: Die sind schuld daran, dass es mir so mies geht. Und das haben sie dann wieder abbekommen." Dass die Kinder Angst bekamen, sobald sich ihnen ihre brüllende Mutter näherte, blendete Tanja Buchmann aus.

"Ich fühlte mich als furchtbare Mutter"

Bis zu diesem einen Abend vor drei Monaten: „Theo hat zu mir gesagt, ich wäre eine blöde Mama und er würde sich freuen, wenn ich tot wäre. Das hat mich so wütend gemacht, dass ich ihn richtig weggestoßen habe. Und dabei ist er an die Tischkante gestoßen - so doll, dass er eine Platzwunde an der Schläfe hatte. Ich habe mich noch nie im Leben so geschämt." Im  Krankenhaus traut Tanja Buchmann sich noch nicht, die Wahrheit zu sagen, spricht von einem Unfall. Doch als am nächsten Tag die Erzieherin im Kindergarten geschockt auf Theos großes Pflaster reagiert, brechen bei der Mutter die Dämme. „Ich habe einfach losgeheult und ihr gesagt, dass ich eine furchtbare Mutter bin." Noch immer sei sie unheimlich froh darüber, dass die Erzieherin sie erst einmal in den Arm genommen habe, statt ihr Vorwürfe zu machen. „Ich hatte doch Angst, die ruft gleich bei der Polizei an." Stattdessen habe man ihr einen Flyer mit Adressen von Erziehungsberatungsstellen gegeben. Dort rief Tanja Buchmann am Nachmittag an. Als man ihr zusicherte, die Beratung sei vertraulich und ihr einen schnellen Termin anbot, war sie erleichtert. Und als man ihr im Gespräch versicherte, man werde das Jugendamt nicht informieren, „da konnte ich dann auch alles rauslassen".

Ines Enge, Psychologin in der Familienberatungsstelle der Arbeiterwohlfahrt Chemnitz, weiß, wie schwer es Eltern fällt zuzugeben, dass in ihrer Erziehung etwas gravierend schief läuft. „Inzwischen wissen die meisten, dass Gewalt gegen Kinder - auch wenn es nur der berühmte Klaps auf den Po ist - eine strafbare Handlung ist. Das formulieren wir auch ganz deutlich - stellen aber auch klar, dass wir dazu da sind, um zu helfen." Es ist eine Hilfe, die viele Eltern brauchen könnten. Nach einer aktuellen Forsa-Umfrage ist die Gewalt noch lange nicht aus deutschen Kinderzimmern verschwunden. Auch wenn die Zahl der Eltern sinkt, die ihre Kinder körperlich züchtigen, bestrafen noch immer vier von zehn Eltern ihre Kinder mit Klapsen, zehn Prozent geben zu, auch Ohrfeigen zu geben - Mütter ebenso wie Väter. Während sich das alte Klischee, Väter würden schneller zulangen, statistisch nicht belegen lässt, hat Ines Enge in ihrer Beratungspraxis beobachtet, dass Mütter ihr Verhalten schneller bereuen würden - zu groß ist in ihren Augen häufig die Diskrepanz zwischen dem eigenen Tun und den Erwartungen, die man landläufig von einer liebevollen, kümmernden Mütter hat. Egal, wem die Hand ausrutscht: Die Gründe für die Übergriffe sind die gleichen. Die Kinder seien unverschämt gewesen, hätten nicht gehorcht oder sich aggressiv verhalten.

Die Gewalt ist Ausdruck der elterlichen Hilflosigkeit

In aller Regel, so Ines Enge, sei Gewalt gegen Kinder Ausdruck purer Hilflosigkeit. „Man weiß einfach nicht mehr weiter - das Kind soll irgendwas machen, verweigert sich aber. Und zum Gefühl der Hilflosigkeit kommt dann das Gefühl, man könne sich doch von einem Dreijährigen nicht auf der Nase herumtanzen lassen." Das hatte auch Tanja Schumann oft. Immer wieder habe sie sich gefragt, was sie nur falsch mache, wenn Bastian sich wieder und wieder auf dem Heimweg von der Kita schreiend fallen ließ, weil er noch nicht gehen wollte. „Man bekommt dann ja auch oft Kommentare, dass man das Kind nicht im Griff hätte." Unbehagen über die Blicke anderer führe dann oft dazu, dass man „richtig durchgreifen" wolle.

Zuzugeben, dass sie schlagen und damit ihre Kinder gefährden, fällt den meisten Eltern schwer. Zu groß ist die Angst, es könne sie die Kinder kosten. Dass die Zahl der Inobhutnahmen, also der Fälle, in denen das Jugendamt Kinder aus gefährdeten Familien herausnimmt, in den vergangenen Jahren immer weiter steigt, scheint vielen Beweis für ein hartes Vorgehen der Jugendämter zu sein. Auch Corinna Bächer vom Kinderschutzzentrum Köln weiß, dass die Angst in den Jugendämtern zugenommen hat, etwas zu übersehen. Sie betont deshalb bei den Eltern, die zu ihr in die Familienberatung oder ins Elterncafé kommen, dass sie und ihre Mitarbeiter an die Schweigepflicht gebunden sind. „Wir wissen alle, dass es im bürgerlichen Gesetzbuch den Paragraphen 1631 gibt, der Kindern das Recht auf gewaltfreie Erziehung zusichert. Trotzdem ist für uns nicht jedes Handausrutschen ein Meldegrund. Das machen wir nur, wenn wir wirklich denken, dass das Kindeswohl in der Familie gefährdet ist." Gemeinsam mit den Familien erarbeitet Bächer konkrete Möglichkeiten, Gefährdungssituationen zu vermeiden oder zu überstehen. Wichtig sei aber auch auszuloten, wie betroffene Familien Entlastung erhalten und Unterstützung bei Problemen finden könnten. „Das kann eine Mutter-Kind-Kur sein oder die Möglichkeit, die Kinder auch mal nachmittags betreuen zu lassen. Wenn Familien finanzielle Sorgen haben, die sie dünnhäutig machen, können wir Kontakt zu entsprechenden Beratungsstellen herstellen."

"Die Situation überollt mich nicht mehr"

Tanja Buchmann hat von der Beratung profitiert. Sie musste erst erkennen, dass Bastian und Theo in ihrem Verhalten völlig normal waren und nicht bockten und trotzten, um sie zu provozieren. Und dass sie es sich und den Jungs leichter machen konnte. „Gerade bei Kleinkindern sind klare Regeln wichtig", sagt Psychologin Enge, „die sind ja total verunsichert, wenn es keine Verlässlichkeit im Handeln ihrer Eltern gibt." Wenn eine Situation zu eskalieren drohe, rate sie dazu, sie zu verlassen. „Dass ein Kind auch mal tobt, müssen Eltern aushalten. Wenn es hilft, dazu den Raum zu verlassen - gut." Wichtig sei es, Gefühle zu kommunizieren - und sich zu entschuldigen, wenn man falsch reagiert habe.

Seit zehn Wochen geht Tanja Buchmann regelmäßig zur Erziehungsberatung. Dort hat man ihr auch den Kontakt zu einer Müttergruppe vermittelt, die sich wöchentlich trifft - und wo die Frauen über alles sprechen können, was sie beschäftigt. Geschlagen hat sie ihre Söhne seither nicht mehr. „Natürlich reagiere ich immer noch nicht perfekt und brülle manchmal. Aber ich lasse nicht mehr zu, dass die Situation mich so überrollt wie früher und ich nur noch in blinder Rage reagiere. Eins habe ich erkannt: Ich bin die Mutter. Ich muss den Kindern zeigen, wie man mit Wut und Enttäuschung umgeht, ohne einem anderen weh zu tun. Woher sollen sie es denn lernen, wenn nicht von mir?"