Probleme meistern, an Krisen wachsen

So kommen Kinder im Leben zurecht

Der beste Freund wendet sich plötzlich ab. Mama und Papa streiten sich oft. In der Schule läuft es schwierig. Kinder sind mit unzähligen Enttäuschungen und beängstigenden Situationen konfrontiert. Wie schaffen sie es, sich von den kleinen und großen Stolpersteinen des Lebens nicht unterkriegen zu lassen?

Autor: Kathrin Wittwer

Verzweiflung? Krisen? Was ist das?

Pippi Langstrumpf
Foto: © iStockphoto.com/ ideabug

"Habt um mich keine Angst. Ich komme immer zurecht.“ So tönt, unbekümmert und restlos von sich überzeugt, ein neunjähriges Mädchen, das ohne Mutter und Vater in einer kunterbunten Villa wohnt. Ein Koffer voller Gold, ein Pferd und ein Äffchen gehören zu ihr – und unglaubliche Superkräfte. Egal, welche Widrigkeiten das Leben für sie bereit hält, nichts bringt sie aus der Fassung, nichts um ihre Lebensfreude. Fantasie hin, Realität her: Wäre es nicht schön, wenn alle Kinder ein kleines bisschen Pippi Langstrumpf wären? Autark, nicht unterzukriegen, nichts einfach hinnehmend, sondern ihre Welt selbst gestaltend – und glücklich und zufrieden damit?

Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein, Selbständigkeit

Ja, sagen im Prinzip die meisten Eltern: Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit sind die Haupteigenschaften, die sie sich laut „Generationenbarometer 2009“ für ihre Kinder wünschen. In der Tat ist es das Wissen darum, wer man ist und was man kann (und auch, was man nicht kann) sowie das Vertrauen darin, dass man selbst etwas bewirkt, das Leben in der eigenen Hand hat und aktiv daran arbeitet, genau das, was Menschen stark und widerstandsfähig macht. Resilienz nennt man eine solche innere Kraft, die daraus erwächst, dass ein Mensch flexibel, eigenwirksam und unabhängig ist, und die dazu führt, dass man mit potentiellen Krisen gut fertig wird. Statt an Problemen zu verzweifeln, den Mut zu verlieren und auf einen Retter zu warten, akzeptieren resiliente Menschen Widrigkeiten als Teil des Lebens, als Herausforderungen, die lösbar sind und denen man sich eben stellt. Sie leiden zwar auch, richten sich aber nicht häuslich im Jammertal ein, sondern entscheiden, wie es weitergehen soll und machen sich wieder auf den Weg. Was dabei hilft, ein solches Stehaufmännchen zu werden, hat die Resilienzforschung – mit Einflüssen aus Medizin, Psychologie, Pädagogik, Anthropologie und Gesundheitsforschung – herausgefunden: ein ganzes Arsenal an förderlichen Schutzfaktoren, sowohl Aspekte des Charakters, der Familie und des Umfeldes.

Beharrlichkeit, Kontaktfreude, Fantasie: Die Vorteile des Charakters

Zuversichtlich, kreativ, ehrgeizig: Wer mit solchen Eigenschaften geboren wird, bringt einige hilfreiche Zutaten innerer Stärke schon mit auf die Welt. Auf andere leicht zugehen können, Beziehungen knüpfen, sich Freunde und Helfer erschließen, sind ebenfalls vorteilhafte Fähigkeiten. Auch die Fantasie hilft Kindern enorm, sich erfolgreich mit der Welt auseinanderzusetzen. Das zeigt nicht nur Pippi, sondern sogar fast idealtypisch Laura mit ihrem Stern: Ob sie allein ist, traurig oder wütend, Streit mit der Freundin oder Heimweh hat, ob sie sich ängstigt, dass die Familie verarmt oder den Eltern eine Missetat beichten muss – in ihrem Stern hat das Mädchen einen Vertrauten, der ihr durch dick und dünn hilft, mit dem sie sich Auszeiten nimmt, die ihr Gelegenheit geben, eigene Lösungen zu finden.

Lernen müssen alle Kinder – Stichwort Trotzphase – für ein selbstbestimmtes Leben vor allem erst einmal eines: auf ihre Bedürfnisse zu hören, auf sich zu achten und, wenn nötig, Nein zu sagen, so der Psychologe Wolfgang Jaede, der sich seit fast 20 Jahren mit Resilienz beschäftigt, in Freiburg die Psychologischen Beratungsstellen für Eltern, Kinder und Jugendliche leitete und als Ausbilder und Supervisor arbeitet. „Manchen, sehr altruistischen Kindern, fällt das richtig schwer, sie kümmern sich lieber um andere als um sich selbst. Wir kennen das auch als Bewältigungsstrategie in Familien, in denen die Kinder im Grunde aber mehr Fürsorge für sich selbst wünschen.“ Das heißt jedoch nicht, dass diese Kinder gleich von vornherein im Leben verloren haben. Für sie geht es darum, neue Perspektiven und Strategien zu verinnerlichen, die ihnen Kraft geben statt rauben.

Stärken fördern, statt nur Schwächen bekämpfen

In solchen Lernprozessen, egal ob im Rahmen der elterlichen Erziehung, in der Familienhilfe oder in therapeutischen Angeboten, legt die Resilienzforschung großen Wert darauf, dass nicht immer nur an den Schwächen der Kinder herumgedoktert wird. Viel entscheidender ist es, ihre Stärken und Kompetenzen zu fördern: Wer bewusst erlebt, was er alles kann, hat Erfolgserlebnisse, die das Selbstvertrauen wachsen lassen. Jede bewältigte Aufgabe nährt die innere Überzeugung, dass man mit Herausforderungen zurechtkommt und macht Mut, sich auch schwierigeren Problemen zu stellen. „Eine Stärkung der Persönlichkeit wirkt sich außerdem positiv auf die Informationsverarbeitung aus, zeigt die neurobiologische Lernforschung. Ein starker Persönlichkeitskern bringt also fürs Lernen sogar mehr als eine Kinder-Uni“, erklärt Jaede. „Deshalb sind zum Beispiel Trainings wie in der üblichen Frühförderung, um Schwächen auszugleichen, zwar nicht unberechtigt. Sie sollten aber um adäquate Herausforderungen ergänzt werden, an denen sich auch die persönlichen Stärken eines Kindes entfalten können.“ Diese Kombination ist effektiver als ein reines Arbeiten an Defiziten.

Liebe, Akzeptanz, Vorbild sein: Die Bedeutung der Eltern

So vorteilhaft angeborene Resilienzqualitäten sind, wird kaum ein Kind tatsächlich von ganz allein immer und überall zurechtkommen. Selbst die schier unverwundbare, höchst unabhängige, eigenwillige und fantasiereiche Pippi hat, abgesehen von äußerst bequemen Superkräften, ihre Freunde und ihre Tiere sowie aus der Zeit mit ihrem Kapitäns-Papa nicht nur diverse Fertigkeiten, sondern auch das feste Wissen darum, geliebt und geachtet zu sein. Ein äußerst bedeutender Schutz- und Förderfaktor in Sachen Resilienz sind eben die Eltern, denen es obliegt (wie Lauras Eltern es in Buch und Serie vormachen), ihrem Kind ein liebe- und verständnisvolles Umfeld zu schaffen, Freiräume zu geben, es sich ausprobieren zu lassen – und für es da zu sein. „Kinder brauchen Erwachsene, um Krisen meistern zu können“, so Wolfgang Jaede. „Nicht selten erleben sie aber, dass auch die Großen ihren Problemen hilflos gegenüber stehen, und das macht die Situation für die Kinder noch schlimmer.“ Hier sollte man sich selbst einmal kritisch hinterfragen: Wie oft sagt man einfach so resigniert dahin „Das kann ich nicht ändern“? Wie oft stöhnt man „Warum immer ich?“, wenn etwas schiefgegangen ist? Wie gut stellt man sich eigenen Herausforderungen? Und vor allem: Schafft man es, um Hilfe zu bitten, wenn es nötig ist? – denn auch das ist ein erwiesener Resilienzfaktor. Ratsuchende Eltern gewinnen also konkrete Hilfe, arbeiten an der eigenen Stärke und sind obendrein gute Vorbilder.

Geborgenheit und Bindung: Die frühesten Einflüsse auf unsere Widerstandskraft

Dass schon werdende Eltern sich bei Ängsten und Unsicherheiten Unterstützung suchen, ist noch aus einem anderen Grund ganz erheblich: „Eine Säule innerer Stärke ist die Gewissheit, Menschen um sich zu haben, die einen mögen und auf die man sich verlassen kann. Dieses Gefühl, Sicherheit und Geborgenheit, können Eltern ihrem Kind schon während der Schwangerschaft vermitteln“, sagt Wolfgang Jaede. „Das Kind erlebt über ein affektives Band unmittelbar mit, was die Mutter und auch der Vater erleben, und fühlt, wenn sie sich auf das Kind freuen.“ Die Resilienzforschung bestätigt ebenso die Aussagen der Bindungstheorie, dass eine frühe enge Mutter-Kind-Beziehung viel Stärke vermittelt. Wissen (werdende) Eltern nicht mehr weiter, sind in der Regel die Familie und Freunde, aber auch eine Hebamme oder Familienhelfer gute Anlaufpunkte. „Außerdem erleben Angebote wie die Frühen Hilfen gerade einen Boom“, sagt Wolfgang Jaede. Solche Zentren bieten Unterstützung wie verschiedenste Kurse, sowohl für Eltern bereits ab dem Beginn der Schwangerschaft wie für Kinder. Kinder können hier Freunde und möglicherweise Bezugspersonen außerhalb der Familie finden, sei es jemanden, der sich regelmäßig um die Hausaufgaben kümmert oder als Kummerkasten fungiert. Solche Helfer (es können auch Lehrer oder Vereinsbetreuer sein), „Schutzengel“, nennt sie Jaede, stehen weit oben auf der Liste der Resilienzschützer.

Mit Lobbuch und Gefühlsuhr: Die Tipps der Pädagogen

Weil sich Resilienz umso besser „lernen“ lässt, je früher man damit anfängt, gibt es mittlerweile in manchen KiTas spezielle Förderprogramme. „PRiK“, „Prävention und Resilienzförderung in Kindertageseinrichtungen“, heißt zum Beispiel eines vom Zentrum für Kinder- und Jugendforschung der Evangelischen Hochschule Freiburg. Dabei geht es nicht nur um die Arbeit direkt in der Einrichtung: In ihrem Erzieherhandbuch „Eltern stärken mit Kursen in der Kita“ geben die Wissenschaftler auch Empfehlungen, was Eltern für sich selbst tun können, um im Alltag gut zu „überleben“, wie sie gemeinsam Lösungen bei Erziehungsproblemen entwickeln und ihr Kind besser beobachten und einschätzen lernen. In Übungen erfahren Mütter und Väter zudem ganz konkret, wie sie ihren Kindern Resilienzfacetten – eine sichere Selbst- und Fremdwahrnehmung, hohe Selbstwirksamkeit, gute Selbststeuerung, soziale Kompetenzen wie Partnerschaftlichkeit, erfolgreiche Stressbewältigung und Problemlösung – spielerisch und altersgerecht vermitteln können. So soll eine gebastelte „Gefühlsuhr“ dem Kind helfen, Gefühle richtig zu verstehen: Dafür malt man Gesichter mit verschiedenen Ausdrücken auf eine Uhr, spricht über die Gefühle mit dem Kind, lässt es selbst erklären, was es sieht. Am Zeiger stellt das Kind jeden Tag ein, wie es ihm geht, lernt sich durch diese Selbstbeobachtung gut kennen und schätzt auch bei anderen Gefühle besser ein. Den Umgang mit stürmischen Emotionen können „Signalkärtchen“ nach dem Ampelsystem erleichtern: Mit roten Kärtchen zeigen Eltern wie Kinder in Streitsituationen, dass eine Pause angesagt ist. Mit einer gelben Karte in der Hand lässt sich eine Lösung überlegen und mit Grün geht es konstruktiv weiter. Ein „Lobbuch“ wiederum beweist einem Kind, was es alles kann: Hierin wird alles aufgeschrieben und gemalt, was es schon alleine und besonders gut macht und was es zum ersten Mal geschafft hat. Sich so eine wachsende Sammlung anzusehen macht stolz und gibt auch an schlechten Tagen wieder Mut.

Die große Sinnfrage: Was müssen Eltern alles leisten?

Liebe, Akzeptanz, Respekt, Stabilität, Werte, Grenzen und Mitgefühl, selber starke, zufriedene, selbstsichere Vorbilder sein und das Kind richtig fördern: Um die Bedeutung solcher Schutzfaktoren wissen viele Eltern. Nicht wenige fragen sich allerdings: Wie das alles schaffen? Immerhin erteilen fast zu jeder einzelnen Facette unzählige Ratgeber Erziehungstipps, deren Lektüre einem ganzen Pädagogik-Studium zu entsprechen scheint. Zum Glück ist es aber gar nicht nötig, an allen Fronten zu kämpfen: „Oft reicht es für ein Kind schon, wenn einzelne Belastungsfaktoren wegfallen und hier und da Verbesserungen geschaffen werden, um eine positive Entwicklung zu fördern“, sagt Wolfgang Jaede. Resilienz ist nichts, was man in einem zweiwöchigen Kurs lernt, sondern ein steter Prozess, in dem mal der eine, mal der andere Faktor bedeutender ist. Und, bei allen Tipps und Ratgebern: „Das, was die Resilienzforschung entdeckt hat und propagiert, soll zu keiner mechanischen Erziehungsfabrik führen“, betont der Psychologe. Ob ein Kind Verantwortung und Mitgefühl lernt, weil die Familie sich sozial engagiert, ob Helden aus Literatur oder wahrem Leben ihnen humorvoll, kreativ und spannend zeigen, wie man Probleme lösen kann, ob Mama und Papa (Lern)Geschichten darüber erzählen, wie sie selbst sich als Kinder in Konflikten behaupten konnten, ob Eltern den Nachwuchs öfter Fehler machen lassen, um Können und Grenzen auszuloten, ob sie mehr darauf achten, positiver zu kommunizieren, ihrem Kind kleinere Aufgaben übertragen, mit denen sie Vertrauen in seine Fähigkeiten signalisieren, ob ein Kind einen Sportverein besucht, wo es Freunde findet, vielleicht auch einen Mentor, wo es Spaß mit Erfolgen verbinden und so mehr Selbstbewusstsein gewinnen kann oder ob es einen Yogakurs macht, damit es mit Stress umgehen lernt: Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, Kinder in ihrem Wachsen zu begleiten und in ihrer Persönlichkeit zu festigen – aber es sollte ganz individuell und gezielt geschehen. „Alles Tun muss einen Sinn ergeben“, betont Wolfgang Jaede. „Das ist überhaupt das ganz große Ziel, Kindern zu vermitteln, dass ihr Leben einen Sinn hat, dass sie wichtig sind, dass sie gebraucht werden und dass Eltern es schaffen, ihr Kind dazu zu befähigen, wenn es alt genug dafür ist, loszulassen und die Sorge für sich selbst zu übernehmen.“

Im Netz

 

Zum Weiterlesen

  • Robert Brooks, Sam Goldstein: Das Resilienz-Buch: Wie Eltern ihre Kinder fürs Leben stärken. Klett-Cotta. 2011. ISBN-13: 978-3608944211. 19,95 Euro.