Weniger ist mehr

Mehr Freiheit für unsere Kinder!

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser? Wie schaffen Eltern in einer Welt von heute den Spagat zwischen Kinder behüten und Freiräume gestatten? Oder sind die guten, alten Zeiten an dieser Stelle kein Maßstab mehr?

Autor: Heike Byn

Kleine Abenteuer im Alltag

Kinder brauchen Freiheit
Foto: © Fotolia

Ich erinnere mich an heiße Sommernachmittage, die wir Mädchen im kniehohen Gras hinter dem leerstehenden Haus um die Ecke verbrachten. Wir kletterten über den kaputten Zaun und naschten von den halbreifen Kirschen im Garten. Unseren Müttern hatten wir erzählt, wir gingen auf den Spielplatz. Am Abend behandelten sie dann unser kollektives Bauchweh und trösteten uns mit Wärmflaschen, Magentee und Streicheleinheiten. Zwischen Bauchkrämpfen und Würgereiz mischten sich aber auch wohlige Schauer der Vorfreude – bei nächstbester Gelegenheit würden wir uns natürlich wieder hinter dem "Gespenster-Haus" treffen. Um uns erfundene Gruselgeschichten zu erzählen, die Katzen der Nachbarn mit Stöckchen zu vertreiben und uns beim Warnruf "Da kommt jemand!" kichernd zu verstecken. Pünktlich zur Abendessenszeit trollten wir uns dann wieder nach Hause: verschwitzt, dreckig und mit dem Vorsatz, unser kleines Geheimnis um keinen Preis der Welt zu verraten.

Kein einziges Mal hat eine wütend oder besorgt aufmarschierende Mutter unser Nachmittagsvergnügen getrübt. Haben die Eltern von all dem nichts bemerkt? Oder hat es sie nicht interessiert? Uns war das egal. Hauptsache, wir behielten unsere kleine Insel der Abenteuer mitten im schnöden Schulalltag für uns allein. Jahre später hat mir die Mutter einer Freundin gestanden, dass unsere Familien sehr wohl wussten, wo wir waren. Aber sie haben uns gewähren lassen. Trotz unreifer Kirschen am Baum, trotz rostiger Nägel im Zaun, trotz Scherbenhaufen im Garten. Mag sein, dass angesichts der Geschwisterschar die eine Mutter gar keine Zeit für Kontrollgänge hatte; mag sein, dass die andere Mutter – müde vom Job endlich wieder zuhause – gar keine Kraft mehr hatte uns hinterherzuspionieren. Vielleicht haben uns die Eltern auch schlicht vertraut. Wissend, dass wir schon nichts Schlimmes anrichten würden und bei Gefahr Hilfe von zu Hause holen würden.

Nur mit Zeit und Muße entstehen eigene Ideen

Warum kann ich denn heute, da ich selbst Mutter bin, meinem Kind nicht ebenso leicht mit dieser Mischung aus Vertrauen, Gelassenheit und Unterstützung begegnen? Warum werde ich unruhig und nervös, wenn sich mein Sohn aufmacht, während einer kleinen Roller-Tour mit Kumpels ein Kratzeis im Kiosk vier Straßen weiter zu kaufen? Weil ich weiß, was alles passieren kann und wie unberechenbar Kinder in der Gruppe sind. Weil ich weiß, wie rücksichtslos viele Verkehrsteilnehmer durch die Gegend brettern. Weil ich weiß, dass die Zahl der Verführungen – nicht durch die viel beschworenen "bösen Onkels" – zugenommen hat und Kinder alleine oft nicht den Unterschied zwischen gut und böse erkennen. Außerdem sieht meine Generation die Kindheit mit anderen Augen und erzieht deshalb auch ihre Kinder grundlegend anders, als es damals in den 1970er Jahren üblich war: Wir versuchen ihre Persönlichkeiten und Bedürfnisse zu verstehen. Wir wollen sie fordern und fördern. Lassen sie vieles mitentscheiden und setzen auf eine gute, partnerschaftliche Beziehung. Mit allen damit verbundenen Vor- und Nachteilen. Denn die große Nähe zueinander bedingt auch eine größere Abhängigkeit und eingeschränkte Freiheiten für die Kinder. Und wie sollen die dann zwischen all den Nachmittagskursen und von Müttern organisierten Verabredungen mit anderen Kindern Muße und Zeit finden für eigene Ideen? Das scheinbar sinnlose Herumhängen auf dem Sofa genießen dürfen? Und wie sollen sie lernen Langeweile auszuhalten, wenn jede Stunde verplant ist? Weniger wäre da oft mehr.

Vertrauen schaffen, Vorbild sein

Wir Eltern müssen lernen unseren Kindern zu vertrauen, ohne uns ständig Sorgen um sie zu machen und sie kontrollieren zu wollen. Ein wichtiger Schritt auf diesem schwierigen Weg ist die Eigenverantwortung der Kinder zu fördern. Indem wir immer wieder neu abwägen, welche Situationen und Aufgaben die Kinder schon alleine oder mit möglichst wenig Hilfe meistern können. Das lässt sie auf Dauer selbstbestimmt Handeln, Verantwortung übernehmen und selbstbewusst werden. Daraus erwächst Vertrauen – in das eigene Handeln und zu den Eltern, die ja da sind, wenn man Hilfe braucht oder Ärger bekommt. Kinder mit einer vertrauensvollen Beziehung zu ihren Eltern erzählen denen auch von Vorkommnissen, die wir früher aus Angst vor Strafe verschwiegen hätten.

Zur Selbstständigkeit und Eigenverantwortung zu erziehen bedeutet aber nicht sich zurückzuziehen. Vielmehr sollten Eltern Vorbild und Lehrende sein um den Kindern die Gefahren im Alltag ganz praktisch zu vermitteln: Beim gemeinsamen Spaziergang zum nächsten Spielplatz oder bei der Fahrradtour zum heiß geliebten Kiosk können wir viel besser auf mögliche Tücken beim Kraxeln auf nassen Klettertürmen hinweisen oder das Verhalten an gefährlichen Straßenkreuzungen zusammen einüben. Erst gemeinsam. Dann das Kind alleine. Wer so versucht, die Entwicklung seines Kindes zu begleiten, hat später gute Chancen um Rat und Hilfe gefragt zu werden.

Übrigens: Mein Sohn hat mir nach dem Kiosk-Ausflug gestanden, entgegen unserer Absprache nicht nur ein Eis, sondern auch noch einen Lutscher gekauft zu haben. Schließlich sei das ja sein Taschengeld und damit könne er machen, was er wolle. Scheint so, dass ich in der Erziehung wohl doch das ein oder andere richtig gemacht habe.