Muss guter Rat teuer sein?

Erziehung mit Bauchgefühl

Die Intuition steht hoch im Kurs. Handys oder Notebooks sollen "intuitiv" zu bedienen sein, Gebrauchsanleitungen sind out. Doch wie ist es bei der Kindererziehung, reicht auch hier das Bauchgefühl? Wann Eltern sich auf Ihre Intuition verlassen sollten - und wann nicht.

Autor: Gabriele Möller

Intuition braucht oft nur Sekunden

Mutter Sohn Intuition
Foto: © iStockphoto.com/ Marina_Di

"Bei der Wahl unseres Kindergartens und leider auch bei der Schule habe ich zweimal 'ins Klo gegriffen', weil ich nicht auf mein Bauchgefühl gehört habe", erzählt eine Mutter bedauernd. Viele Mütter und Väter haben schon einmal die Erfahrung gemacht: eine Entscheidung, die aus einer plötzlichen Eingebung heraus zustande kam, war die bessere Wahl. Vielleicht hat man eine liebe  Tagesmutter oder den richtigen Blockflötenlehrer ausgewählt, obwohl man das Für und Wider nicht lange abgewogen hat. Während das Grübeln über alle Vor- und Nachteile sich vielleicht als eher suboptimal herausgestellt hat.

Auch im Umgang mit dem Kind selbst schwören viele Eltern auf die Intuition. "Ich behaupte von mir, dass ich ein ganz gutes Bauchgefühl habe. Bei uns läuft die Erziehung eher nebenbei, sehr intuitiv", beschreibt es eine Mutter. "Bücher über Erziehung habe ich bisher keine gelesen, weil ich es nicht für nötig erachte." "Schnell und einfach", so nennt der Intuitionsforscher Prof. Gerd Gigerenzer die Form des Denkens, die manchmal innerhalb von Sekunden zu Entscheidungen führt, ohne den Umweg über den eher schwerfälligen Verstand. "Häufig sind die intuitiven Entscheidungen besser als jene, die nach langem Überlegen entstehen", so der Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.

Wie entsteht das "Bauchgefühl"?

Doch was ist sie eigentlich - die Intuition? Eines ist sie jedenfalls nicht: eine Art sechster Sinn, der uns auf geheimnisvolle Weise zur richtigen Entscheidung führt. "Das Bauchgefühl ist keine Erkenntnis, die sich aus dem Übersinnlichen speist und bei der man sich keine Mühe geben muss", betont John-Dylan Haynes vom Bernstein Centre for Computational Neuroscience in Berlin und erklärt: "Eingebungen können uns nur dann helfen, wenn wir uns vorher intensiv mit einem Problem beschäftigt haben." Diese intensive Beschäftigung aber müssen wir gar nicht bemerken, denn unser Gehirn arbeitet und lernt auch, wenn wir ihm nicht dabei zuschauen: Elf Millionen Sinneswahrnehmungen in der Sekunde bombardieren uns. Doch schon nach etwa 40 Sinneseindrücken wird der Input zu viel - und daher einfach in einen anderen Speicher umgeleitet: ins Unbewusste. "Und manchmal dringt aus diesem Wissensschatz ein kleiner Fetzen ins Bewusstsein, dann haben wir eine Intuition", erklärt der US-amerikanische Psychologe Milton Fisher.

Doch damit unsere Intuition funktioniert, greift sie auch auf Erfahrungen zurück. Selbst wenn wir also zum Beispiel noch nicht viel über den neuen  Kinderarzt wissen: Unser Gehirn kann Informationslücken über ihn rasch mit Erfahrungswissen füllen, ohne dass wir dies bemerken. Und so spüren Eltern vielleicht schon beim allerersten Besuch, ob die Chemie zwischen ihnen und dem Kinderarzt zukünftig stimmen wird oder nicht.

"Überschlafen" erhöht die Treffsicherheit

Zwar stellt sich eine Intuition oft schon nach wenigen Augenblicken ein. Doch sollte man ihr bei komplizierteren Entscheidungen ruhig ein wenig Zeit geben: "Unbewusste Denkprozesse blühen erst dann auf, wenn man sich gezielt von einem Problem abwendet oder einfach mal drüber schläft", so die Beobachtung des Psychologen Ap Dijksterhuis von der niederländischen Radboud Universität in Nimwegen. Die Wahl der richtigen  Krippe oder Kita sollte man also überschlafen. Ist dies nicht möglich, sollte die Auszeit mindestens 20 Minuten dauern, raten Forscher. Wichtig: in dieser Zeit etwas völlig Anderes tun und nicht über das Thema nachdenken.

Intuition braucht Einfühlungsvermögen

Doch im Alltag mit Kind bleibt dafür oft keine Zeit, sondern eine sofortige Reaktion ist gefragt. Hier schwören viele Eltern auf das Einfühlungsvermögen, um zu einer schnellen Lösung zu kommen. "Wenn ich einen Konflikt mit meinem Sohn (4) habe, versuche ich, mich in ihn hineinzuversetzen und ihm dann meine Sichtweise zu erklären", erklärt eine Verfechterin der intuitiven Erziehung, "Konsequenzen oder Strafen gibt es bei uns nicht. Wenn etwas kaputt zu gehen droht, nehme ich das aber natürlich weg, hindere ihn auch am Sandwerfen und Ähnlichem." "Als meine Tochter beim Duschen nur noch schrie, hat mich das unheimlich genervt. Aber mir fiel gleichzeitig ein, dass sie in dieser Zeit dauernd sagte: "Ich will das selbst machen!" Statt irgendeine 'Konsequenz' folgen zu lassen, habe ich ihr daher einfach die Brause in die Hand gedrückt", so eine andere Mutter.

Ab in die Tonne mit Ratgeberbüchern?

Haben Ratgeberbücher nun ausgedient, dank der Intuition, die uns niemals im Stich lässt? "Ich finde, der Bauch weiß nicht automatisch alles. Ob in den stressigen Babynächten, später in der 'Trotzphase' oder auch beim Sauberwerden - es gibt ein paar geniale Bücher über Kinderentwicklung, die mir total geholfen haben, wenn ich mal nicht weiter wusste," schränkt eine Mutter hier ein. Zu Recht, denn der Bauch ist nicht immer ein Garant für die richtige Entscheidung. Zum Einen hat die Intuition nur eine Erfolgsquote von etwa 60 Prozent, so die Beobachtung der Wissenschaftler. Zum Anderen profitiert die Intuition auch vom Wissen. Dieses erhöht die Trefferquote, denn es kann den unbewussten "Schnell-Scan" des Gehirns ergänzen. Wer zum Beispiel weiß, dass die Evolution es nicht vorgesehen hat, dass kleine Kinder nachts allein schlafen (sie wären leicht durch Kälte oder wilde Tiere umgekommen), kann sich zugleich besser in sein weinendes Baby hineinversetzen. Bücher über die Entwicklungsphasen von Kindern sind dabei nicht dasselbe wie Erziehungsratgeber. Letztere favorisieren oft bestimmte, recht starre Methoden, die auch Trends unterworfen sind.

Das letzte Wort hat das Gefühl

Doch was ist mit denjenigen Eltern, die auf Ratgeberbücher schwören und der  Intuition eher misstrauen? Sind sie zu "verkopft", um den besten Weg für ihr Kind zu finden? Der Unterschied zwischen den Kopf- und den Bauchmenschen ist gar nicht so groß. Viele Neurobiologen glauben heute, dass alle Entscheidungen letztendlich Gefühlsentscheidungen sind. Der Verstand sei lediglich ein Berater, der Vorschläge mache - Chef aber sei das limbische System im Gehirn, eine Art emotionales Entscheidungszentrum, das das letzte Wort habe. Bei wissensdurstigen Eltern macht der Verstand demnach einfach etwas hartnäckigere und mehr "Vorschläge".

Wut im Bauch ist kein Bauchgefühl

Die eher kopflastigen Mütter und Väter haben sogar einen gewissen Vorteil: Ihnen gelingt es nach Beobachtung der Forscher besser, den ungeliebten Dritten im Boot, nämlich den Affekt, unter Kontrolle zu halten. Er ist es, der Eltern in Windeseile die Palme hinauf jagt, er lässt sie schimpfen und übertrieben oder ungerecht reagieren. Diese Wut im Bauch hat mit echtem Bauchgefühl nichts zu tun.

Oft achten die etwas kontrollierteren "Verstandestypen" auch besser darauf, dass wichtige Regeln eingehalten werden: ein Kind nicht länger als eine bestimmte Zeit vor dem Bildschirm sitzt, zuverlässig Hausaufgaben macht, pünktlich beim Training im Sportverein erscheint (obwohl das Bauchgefühl den Altvorderen vielleicht rät, sich lieber aufs Sofa zu legen, statt mit dem Nachwuchs bei Regen nochmal loszufahren).

Der Kopf ist manchmal zu wenig flexibel

Doch darf auch eine Schwäche der "Vernunftmenschen" nicht verschwiegen werden: Sie laufen manchmal Gefahr, eine Erziehungsmethode zu rigoros anzuwenden, auch wenn sie vielleicht nicht zum Kind oder zur Situation passt. Ein weiteres Risiko ist, dass sie manchmal zu lange über einer Entscheidung grübeln. Zu langes Überlegen aber führt nach Beobachtung des Forschers Ap Dijksterhuis häufiger zu Entscheidungen, die sich im Rückblick als ungünstig herausstellen.

Welcher Weg für welchen Elterntyp?

Ob man eher auf Ratgeber hören oder sich mehr auf das eigene Bauchgefühl verlassen sollte, hängt auch von der eigenen Lebensgeschichte ab. Wir haben unbewusst zahlreiche Verhaltensmuster abgespeichert, die wir in unserer Kindheit erlebt haben. Wer auch in schwierigen Situationen auf viele "gute" Muster zurückgreifen kann, weil er seine Eltern als geduldig und emotional stabil erlebt hat, braucht weniger Hilfe von außen. Anders jemand, der seine Kindheit eher als problematisch empfunden hat und Erziehung bewusst anders gestalten möchte. Hier können Ratgeber helfen, neue Lösungen zu finden.

Das Eine tun und das Andere nicht lassen

Viele Eltern nutzen beide Instanzen gleichwertig: erworbenes Wissen und den Bauch: "Man kann durchaus von Ratgebern profitieren, sofern sie nicht dem Bauchgefühl widersprechen", sagt eine Mutter. Eine Andere sieht es ähnlich: "Wenn ich etwas nur tue, weil irgendein Experte das rät, kann das nicht gut sein. Man sollte sich immer seine eigene Meinung bewahren." Eine Forums-Userin betont: "Ich muss akzeptieren, dass es keine 'Gebrauchsanweisung' für mein Kind gibt. Ich muss jeden Tag Neues lernen und den 'Bauch' mit Input füllen, damit er richtig entscheiden kann."

Dabei unterscheiden sie oft bewusst zwischen  Alltagssituationen und komplexeren Problemen: "Solange es keine großen Probleme gibt, muss ich mir auch keine Strategie überlegen, da klappt das mit dem Bauch. Wenn aber mein Kind hier 'resistent' bleibt, dann suche ich mir auch Hilfe bei Ratgebern", differenziert eine Mutter. "Ich finde es wichtig, typische Entwicklungsphasen zu kennen, deswegen habe ich in Entwicklungsbüchern geschmökert. Ansonsten bin ich für: Bauchgefühl, Respekt, liebevoll Grenzen setzen und auch die Grenzen des Kindes achten", beschreibt eine andere ihren Weg.