Eltern-Ängste

Entführung – wie groß ist die Gefahr für Kinder wirklich?

Mit „Schockvideos“, die belegen sollen, wie leichtfertig Kinder Fremden vertrauen, schwört ein Anbieter von Präventionstrainings schlimme Gefahren wie Kindes-Entführungen herauf. Sind unsere Kinder wirklich so sehr in Gefahr? Lies hier außerdem, wie du dein Kind schützt, ohne eine überbehütende Mama zu werden.

Autor: Petra Fleckenstein

"Schockvideos" in den sozialen Medien

Entführung Gefahr Kinder
Foto: © colourbox

„Dieses Video wurde mit versteckter Kamera gedreht und hat jede Mutter in den USA schockiert", schreibt das „Sicher-Stark-Team", das sich selbst damit brüstet, „einer der führenden Anbieter auf dem Gebiet der Gewaltprävention" zu sein, in reißerischem Ton auf seiner Webseite. In dem Video, das unter Kenntnis der jeweiligen Eltern mit versteckter Kamera gedreht wurde, klingelt der in den USA für seine „sozialen Experimente" bekannte Joey Salads bei amerikanischen Familien. Und dies genau dann, wenn die Eltern der jeweiligen Kinder entweder nicht zu Hause oder im oberen Stockwerk beschäftigt sind. Den Kindern, die die Tür öffnen, stellt er sich als „Freund deines Papas" vor. Auf seine Frage hin, ob er drinnen auf die Eltern warten dürfe, lassen die Kinder den Fremden bereitwillig eintreten.

Auch ein früheres „soziales Experiment" des Youtubers Joey Salad wurde in den sozialen Medien verbreitet. In diesem Video bewegte er mit Hilfe eines Hündchens Kinder auf einem Spielplatz binnen Sekunden dazu, Vertrauen zu ihm zu fassen und bereitwillig an seiner Hand mitzugehen.

Mit der Angst der Eltern Geld verdienen

Sind unsere Kinder wirklich so gefährdet wie diese Videos vermuten lassen? Nein, meinen zwei Experten, die es wissen müssen: „Ein solcher Vorfall ist Gott sei Dank nicht so häufig wie man durch diese Videos glauben könnte", sagt Cordula Lasner-Tietze, Geschäftsführerin beim Bundesverband des Deutschen Kinderschutzbunds im urbia-Gespräch. Zwar würde die Expertin solche Filme nicht zur Präventions-Arbeit in Schulen empfehlen, aber sie können ihrer Meinung nach immerhin Anlass sein, um mit dem Kind über eine vergleichbare Situation und andere Dinge zu sprechen, die ihm vielleicht Angst machen. Andreas Mayer, Geschäftsführer der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes, sieht die Videos rundum kritisch: „Viele Anbieter werben mit Angst einflößenden Videos, Werbetexten oder Statistiken für Kurse und andere Trainings, die Kinder gegen Übergriffe von Fremden schützen sollen. Tatsache ist aber, dass Anbieter mit der Angst der Eltern Geld verdienen wollen." ( Lies hier das vollständige Interview über Sicherheit für dein Kind mit dem Polizei-Experten für Prävention.)

Wichtig ist es also, hier die Absicht zu erkennen, mit der Gefahren für unsere Kinder heraufbeschworen werden. Denn tatsächlich sind die Fälle von Kindesentführung durch einen fremden Täter verschwindend gering und bewegen sich nach Schätzungen im einstelligen Bereich. Viel häufiger werden Kinder zum Opfer von Misshandlung oder sexueller Gewalt, und das im eigenen Familienumfeld. Im Jahr 2015 registrierte das Bundeskriminalamt 3.441 Fälle von Misshandlung und 13.928 sexuelle Gewalttaten an Kindern.

Auch wenn diese Täter überwiegend aus dem Familien- oder Freundeskreis kämen, dürfe die Gefahr durch Fremde nicht einfach abgetan werden, sagt Lasner-Tietze. „Es gibt Täterstrategien, die schwer für Kinder zu durchschauen sind." Das sind vor allem Situationen, in denen Täter erst einmal sehr freundlich auf das Kind zugehen.

Täter versuchen das Vertrauen von Kindern zu gewinnen

Der Ratschlag, von Fremden keine Süßigkeiten anzunehmen, mit dem Generationen heutiger Eltern aufgewachsen sind, ging daher tatsächlich in die richtige Richtung. Denn die meisten Täter zeigen nicht direkt ihr böses, sondern zunächst ein freundliches Gesicht. „Das Kind erlebt erst einmal eine zugewandte Ansprache, bekommt vielleicht auch eine Süßigkeit. So wird langsam eine Beziehung zum Kind aufgebaut und eine Grenze überschritten", sagt Lasner-Tietze vom Deutschen Kinderschutzbund.

Was nun zähle, sei das Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Kind. „Denn Kinder spüren, dass da etwas nicht stimmt und es ist entscheidend, ob sie frühzeitig ganz angstfrei und unbefangen von einer solchen Begegnung erzählen können", so die Expertin. Um die wichtige Balance zwischen Misstrauen und Offenheit zu finden, brauche es eine offene Gesprächskultur in der Familie, in der jeder ernst genommen wird. Außerdem kannst du dein Kind mit ein paar kleinen Vorkehrungen rüsten.

Sicherheitsregeln für Eltern und Kinder

  • Dein Kind sollte wissen, wie es dich jederzeit erreichen und mit dir Rücksprache halten kann, wenn es zum Beispiel etwas erlebt hat, was ihm komisch vorkommt
  • Wenn es unter Vorwand von Fremden angesprochen wird, kann es zum Beispiel fragen: „Was willst du denn überhaupt von mir"? Diese direkte Frage kann für potenzielle Täter, die in undurchsichtiger Weise versuchen, das Vertrauen des Kindes zu erschleichen, schon abschreckend wirken.
  • Ist dein Kind einmal alleine zu Hause oder unterwegs, sollte es eure Regeln für diese Situation gut kennen (Wer darf herein gelassen werden, mit wem darf das Kind mitgehen oder fahren?).

Weitere Tipps findest du in diesem Artikel: Selbstsicherheitstraining für Kinder
Darin: Die Liste der 10 wichtigsten Präventionsregeln für Kinder und Ihre Eltern

Helfen Präventionstrainings deinem Kind?

„Schwierig ist, dass hier die Verantwortung, nein zu sagen und sich körperlich zu wehren, ausschließlich auf dem Kind lastet", sagt Cordula Lasner-Tietze. Im Moment könne ein solcher Kurs vielleicht befriedigend sein und Eltern das Gefühl geben, alles getan zu haben. Die Täterstrategien aber seien undurchsichtig für Kinder. Daher ist es wichtig, „dass Eltern und Kinder diese im Bauch wahrgenommene Unsicherheit im Kontakt mit Fremden thematisieren und zusammen überlegen, wie sie in der nächsten Situation damit umgehen."

Was machen Eltern mit ihrer Angst?

„Die Angst bleibt immer, das gehört zu uns Menschen dazu", sagt Lasner-Tietze. Sie hat nicht zuletzt eine Schutzfunktion, sagt Lasner-Tietze. Wichtig sei es aber, die eigenen Ängste und die Ängste des Kindes zu kennen und beides nicht zu vermischen. Und dann zu schauen, was Eltern und Kind gemeinsam tun können. „Die innere Sicherheit, wir haben darüber gesprochen, du hast Handlungsstrategien, ich habe dir Hilfsangebote gemacht, das ist eine gute Basis, um Vertrauen und Sicherheit für beide zu schaffen."

Weiterführende Infos:

Um die Sicherheit von Kindern kümmern sich einige Vereine und Anlaufstellen:

Einige sinnvolle Tipps für unklare Situationen mit Fremden - zum Beispiel dem Tipp, einen Notfallcode zu vereinbaren - findest du auch hier: So schützen Sie Ihr Kind vor einer Entführung