Entwicklungsschritte

Anstrengendes Kind: Nur eine Phase?

Schon bei Babys verläuft die Entwicklung in Schüben. Etwas ratlos sprechen Eltern in turbulenteren Zeiten gerne von Phasen, in denen sich das Kind befindet. Wir beschreiben die häufigsten Phasen und geben Tipps zum Umgang damit.

Autor: Gabriele Möller

Eine endlose Kette von Entwicklungs-Phasen!

Wutanfall: Kleinkind auf Bank
Foto: © iStock, debbiehelbing

„Ja, diese Phase hatten wir auch mal“ – dies ist einer der meist gehörten Sätze, wenn Eltern sich mit anderen Müttern und Vätern unterhalten. Egal, ob schon beim Baby, beim Klein- oder Schulkind – irgendwann dämmert es allen: Das Leben des Nachwuchses besteht aus einer endlosen Kette von Phasen, die einander fast übergangslos abzulösen scheinen. Das Wort „Phase“ ist dabei eher negativ besetzt: Meist umschreibt es eine Zeit, die Eltern als besonders anstrengend, erzieherisch herausfordernd oder beunruhigend erleben. Eine „Phase“ wirft immer auch Fragen auf: Ist dieses Verhalten normal? Wann geht es endlich vorbei? Können wir diese Phase einfach aussitzen, oder müssen wir etwas tun? urbia nimmt eine Auswahl der häufigsten Phasen vom Baby- bis zum Kiga-Alter genauer unter die Lupe.

Wann hört unser Baby auf zu spucken?

Obwohl Eltern „Phasen“ meist nicht viel abgewinnen können, betreffen sie fast immer eine natürliche Entwicklung des Kindes. Ein Beispiel ist das „Spucken“ vieler Babys. Die Weisheit „Speikind – Gedeihkind“ tröstet meist nicht wirklich. Wer sich sorgt, kann das „Gedeihen“ einfach genauer anschauen: Nimmt das Baby normal zu (gleichmäßige Kurve im Gelben Untersuchungsheft), wirkt es lebhaft und rosig, dann braucht man sich nicht zu grämen - höchstens um die eigenen Klamotten. Erbricht ein Baby regelmäßig schwallartig und große Mengen oder nimmt es nicht recht zu, ist Abklärung beim Kinderarzt angesagt. Ist alles okay, gilt: „Speikinder“ gedeihen prima. Diese Phase endet oft mit sechs bis acht Monaten, Pechvögeln unter den Babys bleibt es noch einige Monate länger erhalten.

Alarm im Darm: Die Dreimonatskolik

Schneller hat man eine andere Phase des Babyalters überstanden: Die Dreimonatskolik. Sie bleibt oft tatsächlich auf etwa drei Monate beschränkt, nur wenige Babys müssen noch länger damit kämpfen. Forscher glauben heute, dass die Koliken weniger mit dem Darm zu tun haben, als vielmehr mit dem noch unreifen Nervensystem: Die ganz normalen Alltagserlebnisse, Geräusche, Empfindungen werden vom Baby nur schwer verarbeitet – und das schlägt ihm förmlich auf den Darm, obwohl dieser ganz in Ordnung ist. Das „Nervenkostüm“ wird aber bald robuster, der Darm beruhigt sich. Helfen kann man während einer Schreiattacke zum Beispiel mit Herumtragen in Fliegerstellung bei leisem Singen. Ungünstig sind fürs Baby spürbare Besorgnis der Eltern oder zu vieles Herumprobieren mit verschiedensten Hausmitteln.

Plötzlich schläft es nicht mehr durch

Manche Eltern können ihr Glück kaum fassen: Schon nach wenigen Wochen schläft ihr Baby durch. Mitleidig werden andere Eltern betrachtet, die morgens mit Ringen unter den Augen über Staccato-Schlaf klagen. Und dann kommt auf einmal die Nacht, wo sich der eigene Nachwuchs plötzlich alle zwei Stunden meldet. Nun gut, denkt man, einmal ist keinmal. Es folgt aber noch so eine Nacht, und noch eine. Und langsam dämmert einem: Es ist vorbei mit dem Durchschlafen. Durchschlaf-verwöhnte Eltern wittern jetzt schnell eine „Schlafstörung“ beim Baby. Es leidet aber kein gesundes Baby an einer Schlafstörung. Auch, wenn es anstrengend ist: Dass Kinder in den ersten zwei Jahren nicht durchschlafen, ist ganz normal. Meist gibt es einen Wechsel zwischen Phasen des Durchschlafens und Zeiten, wo das Kind sich ein- oder mehrmals meldet.

Von der Hand in den Mund: Die orale Phase

Sobald ein Baby greifen kann, entdeckt es, wie man Dinge in Richtung Mund befördert. Das macht Sinn: Denn hier befinden sich anfangs viel mehr Sinneszellen als an den Fingerspitzen. Das Baby erkundet mit dem Mund Form, Konsistenz und Oberflächenstruktur eines Gegenstandes. Was oft so selbstverloren aussieht, ist also konzentrierte Lernarbeit. Die orale Phase dauert meist bis zum zweiten Lebensjahr, manche Kinder stecken aber auch noch bis ins dritte Lebensjahr hinein Gegenstände in den Mund. Ermahnungen helfen da wenig. Solange ein Kleinkind dies tut, sollten Eltern einfach weiterhin alle verschluckbaren Teile in Sicherheit bringen.

Eigensinn macht Spaß, oder: „Sie war doch bisher immer so lieb!“

Im ersten Lebensjahr verwöhnen Babys ihre Eltern meist mit guter Laune. Entzückt gehen Mutter und Vater davon aus, der Sonnenschein werde nun anhalten, bis der Sprössling Führerschein macht. Dann kommt aber der Tag (und er kommt immer), an dem den Altvorderen ein erbittertes „Nein!“ entgegen schallt, Verbote ignoriert werden oder das Kind sich nicht mehr wickeln oder anziehen lässt. Leicht naiv trauert man alten Zeiten nach: „Sie war doch immer so lieb, ich versteh’ das gar nicht!“ Entwicklungspsychologen beruhigen: Dies ist das unvermeidliche Heraufdämmern des Selbstständigkeitsalters, in dem das Kind möglichst Vieles selbst tun möchte und in der es den Eltern Widerstand entgegen setzen muss, um seine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Schon vor 100 Jahren betonte der Dichter Hermann Hesse im Aufsatz „Eigensinn macht Spaß“, wie wichtig es für kleine Kinder ist, den Erwachsenen einfach mal etwas entgegen zu halten. Diese Phase besonders großer Konfliktbereitschaft endet meist vor dem Schulalter. Ab hier beginnt die sog. Latenzphase, die bis zum Beginn der Pubertät dauert, und in der viele Eltern ihre Kinder - und viele Kinder ihre Eltern - als (etwas) weniger anstrengend empfinden.

„Es hatte doch schon so gut geklappt!“ – Rückfälle beim Sauberwerden

Es zeichnet sich immer klarer ab: Phasen erfordern eher Geduld als schnelle Maßnahmen. Der Familientherapeut Jesper Juul beklagt: „Ich finde es absurd, wenn Eltern die Vorstellung haben, ihre Kinder müssten sich sofort ändern, nur weil sie es sich so wünschen.“ Geduld ist auch bei Rückfällen beim Sauberwerben gefragt. Manchmal lösen äußere Herausforderungen einen Rückfall aus, oft hat der aber auch gar nichts mit seelischen Problemen zu tun. Vorwürfe („Warum bist du denn nicht aufs Klo gegangen, du kannst das doch schon längst!“) norden kein Kind wieder auf den Sauberkeits-Kurs ein. Jetzt hilft am besten Zurückhaltung: Windelpants ermöglichen den Toilettengang, schützen zugleich vor nassen Hosen. Eine gelegentliche Erinnerung, das man ruhig auch auf die Toilette gehen kann, reicht aus. Falls ein „rückfälliges“ Kind mit fünf Jahren noch nicht trocken ist, kann ein Besuch beim Urologen helfen.

Klettenalarm – wenn Kinder den Rockzipfel wieder entdecken

Ungeduldig reagieren viele Eltern auch, wenn ihr Kind plötzlich wieder sehr anhänglich wird und sie am liebsten sogar noch aufs Klo begleiten möchte. Sie fürchten einen Rückschritt in der Entwicklung. Am besten ist es, dem Sicherheitsbedürfnis des Kindes entgegen zu kommen. Also immer genau zu erklären, wohin man geht, wann man zurückkommt (auch zum Kiga, zur Tagesmutter) und Vorschläge zu machen, wie das Kind die Zeit bis dahin füllen könnte. Die Ängste des Kindes sollten gespiegelt werden („Ich kann verstehen, dass das jetzt für Dich neu / schwierig ist“). Gibt man Sicherheit, kommt ganz von selbst der Moment, wo der Nachwuchs sich wieder weiter in die Welt wagt.

Manchmal bezieht sich die Anhänglichkeit auch nur auf ein Elternteil. Dann scheint das Kind Mama oder Papa auf einmal viel mehr zu lieben, möchte nur noch von seinem Favoriten die Zähne geputzt bekommen oder lässt sich nur noch von ihm trösten. Jetzt muss das vernachlässigte Elternteil cool bleiben. Das Kind will keine Angst haben müssen, dass der Ausgegrenzte es weniger lieb hat. Wichtig ist auch, dass der weniger favorisierte Elternteil unerschütterlich Aufgaben bei der Kinderpflege übernimmt (und sich vom Kind dabei auch nicht abwimmeln lässt!), und ihm Zeit schenkt, damit der „Draht“ nicht abreißt. Über kurz oder lang hört die Bevorzugung wieder auf – oder wechselt über auf den anderen Elternteil.

Grausige Nachtmusik aus dem Kinderzimmer: Zähneknirschen

Fast alle Kleinkinder lassen es phasenweise verlauten: Das Zähneknirschen. Es ist bei kleinen Kindern meist kein Ausdruck von seelischer Belastung, sondern ein natürliches Phänomen. Kinderarzt Dr. Andreas Busse betont: „Bei Kleinkindern dient das Knirschen dazu, die Zähnchen aufeinander einzupassen, es ist völlig normal.“ Nur, wenn ältere Kinder anhaltend knirschten, könnten auch Kieferfehlstellungen, Stress oder seelische Belastungen die Ursache sein. Neben der Ursachenforschung könne man beim Zahnarzt eine Aufbissschiene anpassen lassen, um Abrieb zu vermeiden.

Nächtliche Verzweiflung ohne Nachwirkungen: Der „Nachtschreck“

Er ist verwandt mit dem Schlafwandeln und gilt als eine Aufwachstörung: Der  Nachtschreck (= „Pavor Nocturnus“). Er betrifft überwiegend Kinder zwischen vier und zwölf Jahren. Beim  Nachtschreck wacht das Kind ein bis zwei Stunden nach dem Einschlafen auf, weint verzweifelt, läuft vielleicht irritiert durchs Zimmer, zittert oder schwitzt und reagiert nicht auf Trost oder Fragen. Nach etwa einer Viertelstunde beruhigt es sich, am nächsten Morgen kann es sich kaum an die Attacke erinnern. Manchmal wird der Nachtschreck von Alpträumen begleitet. Der Schreck wirkt oft dramatisch, ist aber harmlos und geht irgendwann von selbst vorbei. Trotzdem können Eltern ein wenig Ursachenforschung betreiben: Diese Schlafstörung tritt oft nach besonders aufregenden Tagen auf, oder auch in Zeiten seelischer Herausforderungen.

Stottern und Lispeln – wenn die Wörter klemmen

Zwischen zwei und fünf Jahren lauert aber noch eine weitere Phase: Jetzt sind viele Kinder vom sog. Entwicklungsstottern betroffen. Sie wiederholen ein Wort so oft, bis ihnen das nächste Wort eingefallen ist („Das ist ein-ein-ein Bagger). Eltern sollten das Kind nicht auffordern, langsam zu sprechen, sondern das Stottern nicht beachten. Wenn es nach mit vier Jahren noch da ist, kann der Kinderarzt eine Sprachtherapie verordnen. Die wird von Logopäden, Sprachtherapeuten, Atem-, Stimm- und Sprachlehrern sowie von Sprachheilpädagogen angeboten. „Echtes“ Stottern unterscheidet sich vom Entwicklungsstottern durch angestrengte Körpersprache (Grimassieren, Kopf- und Armbewegungen) sowie durch Sprechvermeidungsverhalten.

Viele kleine Kinder haben aber auch Probleme mit den Lauten „s“ „ss“ oder „sch“, sie lispeln. Bis zum vierten Lebensjahr ist das normal. Wenn ein Kind mit fünf Jahren noch lispelt, hilft ein Logopäde mit Übungen (auch für zu Hause).

Die „anale Phase“

Dass mein dreijähriger Sohn kürzlich in die „anale Phase“ eintrat, war nicht zu übersehen: Entzückt griff er in einem Laden nach einem „Pups-Handy“, das einen Lautsprecher in Po-Form hat, und dem man diverse Pupsgeräusche („lang, kurz, feucht, trocken“) entlocken kann. Seine große Schwester opferte großzügig ihr Taschengeld und schenkte ihm dieses Gerät, dass mein Mutterherz nicht wirklich höher schlagen lässt. Wie Altvater Freud diese Phase tiefenpsychologisch erklärte, ist eigentlich nicht so wichtig. Es reicht zu wissen, dass sie bei fast allen Kindern zwischen drei und vier auftritt: Auf einmal hüpfen nicht-stubenreine Wörter aus ihnen heraus wie die Nacktschnecken aus dem Mund von Harry Potters Freund Ron. Das beste Rezept, auf „Kakapopo“ oder „Pupsarsch“ zu reagieren ist: überhören. Wortbomben, die Mama oder Papa kalt lassen, sind wie Rohrkrepierer – gänzlich unspannend. Hilft das nicht, können die beliebtesten Ausdrücke einmal laut in einen Schrank (oder den Wald) geschrien werden, um dort für immer zu verhallen. Bleibt die Faszination am Unwort trotzdem, hilft nur die Zeit: Ob mit oder ohne Ermahnungen – auch diese Phase geht vorüber.

Wer nicht fragt, bleibt dumm: Die „Warum-Phase“

Die Zahl der Warums, die meine Kinder mir an den Kopf geworfen haben (und noch werfen), ist Legion. Und ich muss zugeben, dass ich manchmal – nur um kurz verschnaufen zu können – wahrheitswidrig gebrummelt habe: „Weiß ich auch nich’“. Warum-Fragen erfordern einfache Antworten. Wenn ein Kind fragt, warum es Obst essen soll, braucht es keinen Vortrag über den menschlichen Stoffwechsel. Es reicht zu sagen: Dein Körper möchte gern wachsen, und dafür braucht er Obst.

Auch nur eine Phase? Wenn das Kind klaut, lügt oder schlägt

Die unbeliebtesten Phasen sind diejenigen, wenn ein Kind sich plötzlich unsozial benimmt. Wenn es vielleicht andere Kinder haut, oft schwindelt oder Dinge mitgehen lässt. Hier schämen sich die Eltern oft für das Kind mit und haben diffuse Versagensgefühle. Vor allem aber haben sie meist den Impuls, aktiv werden zu müssen. Meist reicht es aber, dem Übeltäter zu erläutern, wie diese Dinge sich für andere anfühlen und ihn zu einer Entschuldigung zu veranlassen. Jesper Juul betont, dass man – im Vertrauen auf die Wirkung eines intakten Familienklimas – manches Problem aussitzen darf: „Wenn meine Frau und ich über das Benehmen unseres Sohnes erstaunt und entsetzt waren, haben wir es uns zur Gewohnheit gemacht, diesen Tag im Kalender rot anzukreuzen. Dann haben wir einen bestimmten Zeitpunkt festgelegt und uns gedacht, wenn er sich bis dahin nicht verändert hat, dann müssen wir etwas unternehmen. Und es war jedes Mal so, dass sich immer etwas verändert hat – und eine Intervention überflüssig wurde“, erzählt er und erklärt unaufgeregt, was bei vielen Phasen hilft: „Es hat sich bei uns öfters bewährt: nicht gleich handeln, geschweige denn mit Strafen drohen oder gar bestrafen, sondern erst mal abwarten.“

Zitate aus: Jesper Juul und Ingeborg Szöllösi (Hrsg.): Aus Erziehung wird Beziehung: Authentische Eltern – kompetente Kinder, Herder Verlag 2009, ISBN-13: 978-3451055331 (Juul im Interview mit Szöllösi).