Gelassene Eltern, glückliche Kinder, zufriedene Familien

Achtsamkeit in der Erziehung

Erziehungstipps holen sich Eltern in der Regel von Pädagogen oder Psychologen. Doch auch aus unerwarteten Ecken kommen Inspirationen für einen liebevolleren Familienalltag: So kann die buddhistische Praxis der Achtsamkeit das Leben mit Kindern deutlich harmonischer gestalten und alle sehr bereichern.

Autor: Kathrin Wittwer

Wann habe ich mich mit meinem Kind gefreut?

Vater Sohn Konzentration
Foto: © iStockphoto.com/ asiseeit

"Wenn Sie soweit sind“, sagt die angenehm ruhige Stimme von CD, „können Sie sich darauf einstellen, vor Ihrem inneren Auge oder Ihrem inneren Gefühl eine Situation auftauchen zu lassen, wo Sie sich entweder mit einem Kind gefreut haben, das heißt, gemeinsam eine freudige Situation erlebt haben, oder sich über etwas gefreut haben, was Sie bei einem Kind beobachtet haben.“ Die Anweisung, mich nicht anzustrengen, um dieses Bild herbei zu holen, sondern mir Zeit zu lassen, kommt zu spät: Mein Hirn ist längst in Aufruhr. Da fällt mir so schnell nichts sein, jammert es, und statt nachzudenken, bietet es mir panisch an, aufzulisten, wie oft ich mich in den letzten Tagen über mein Kind geärgert habe – das hätte es sofort parat. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt so sehr über mich selbst erschrocken war.

Eine Frage der Stimmung

„So eine Reaktion ist ganz normal“, beschwichtigt Lienhard Valentin. Der Gestaltpädagoge, Elternberater und Gründer des Vereins „Mit Kindern wachsen“ ist Autor und Stimme der CD „Achtsame Eltern – glückliche Kinder“, die mir diesen Schreck verpasst hat. „Um zu überleben, mussten unsere Vorfahren ständig auf der Hut sein“ – und das ist noch heute tief in unseren Hirnwindungen eingegraben. „Von daher richten auch wir unsere Aufmerksamkeit vor allem auf das, was nicht stimmt, was bedrohlich sein könnte. Wie der Neuropsychologe Rick Hanson sagt, ist unser Gehirn für negative Erfahrungen wie Kreppband, an dem alles hängen bleibt, und für positive wie Teflon, an dem vieles abrutscht.“ Dass das moderne Leben unglaublich rasant verläuft, hilft nicht gerade, solche unguten Programmierungen auszugleichen: „Die Reaktion auf eine Situation hängt immer von unserer Stimmung ab“, erklärt Valentin. „ Wenn es mir gut geht, ich ausgeschlafen bin, reagiere ich auf die gleiche Situation vollkommen anders, als wenn ich müde bin und schlechte Laune habe. Wenn die eigene Tasse ständig leer ist, haben wir auch nichts auszuschenken“. Deshalb reagieren wir im stressigen Alltag nicht selten aus Überforderung auf unsere Kinder. Für die kann das auf Dauer verheerend sein: Schließlich prägt die elterliche Reaktion auf sie ihr Selbstbild ganz entscheidend. Zum Glück lassen sich aber sowohl unser Umgang wie auch die negativen Gehirnstrukturen zum Guten wenden.

Die neue Wunderwaffe der Erziehung

Achtsamkeit heißt das Zauberwort, das diesbezüglich immer häufiger im pädagogischen Umfeld auftaucht. Achtsam sein bedeutet, innere und äußere Vorgänge mit ungeteilter, entspannter Aufmerksamkeit zu beobachten und "das ganze Bild" aufnehmen. Es ist die Fähigkeit, ganz im Hier und Jetzt präsent zu sein, den Augenblick wahrzunehmen – und zwar völlig wertfrei, ohne Analyse oder Urteil. Eine solche Haltung kennt man von Buddhisten, für die Achtsamkeit nicht nur Ziel von Meditationen, sondern Lebensstil ist. Was das mit Erziehung zu tun hat, erklärt die Autorin Sarah Naphtali in „Der kleine buddhistische Erziehungsratgeber“ so: „Wenn wir unseren Gemütszustand sehen, wie er ist, kann ein Moment der Klarheit entstehen. […] In dem Moment, in dem wir einsehen, dass eine negative Gefühlslage unsere Bemühungen, eine Situation zu verbessern, nur sabotieren kann, werden wir sofort auf die positive Alternative zurückgreifen. Du wachst auf und erkennst, was der Moment wirklich von dir verlangt.“ Wer achtsam ist, ist bei sich, und wer bei sich ist, reagiert nicht automatisch aus unguten Mustern oder Stress auf seine Kinder.

Individuelle Reaktionen statt Standarderziehung

Dass man sich durch Innehalten und Abstandnehmen Entscheidungsfreiräume für sinnvolleres Handeln verschafft, ist für Lienhard Valentin ein Hauptaspekt von achtsamer Erziehung. Nicht nur, weil sich dabei Situationen entschärfen und Beziehungen entspannen, sondern weil eine solche Haltung es ermöglicht, individuell aufs Kind einzugehen: „Jedes Kind ist ein Land für sich, das sich ständig ändert, in jedem Moment neu ist“, sagt er. „Standarderziehungstipps, die vorschreiben, was man in bestimmten Situationen tun soll, funktionieren da nur sehr bedingt. Angemessene Reaktionen findet man nur, wenn man immer wieder neu und unvoreingenommen in Kontakt tritt und genau spürt, was ein Kind gerade jetzt braucht, was wirklich wichtig ist.“

Achtsamer Familienalltag – geht das überhaupt?

Gerade Müttern wird ja nun aber eine im alltäglichen Familienwahnsinn unerlässliche Fähigkeit zugestanden, die sich mit Achtsamkeit wenig verträgt: das Multitasking. Wie soll man denn Kinder, Haushalt, Job, Sozialleben auch unter einen Hut kriegen, wenn man nicht in der Lage ist, Dinge gleichzeitig zu tun? Kann man es sich bei all den vielen Anforderungen überhaupt leisten, mit ganzem Herzen bei einer Sache zu bleiben, am Ende noch selbst bei den unliebsamsten Alltagsaufgaben? Gerade da ist das sogar besonders wichtig, plädiert die Religionspädagogin Vreni Merz in ihrem Buch „Wie gut der Apfel schmeckt…“ – weil unser Leben nun mal nicht außerhalb des Alltags stattfindet, nicht beginnt, wenn die Kinder im Bett liegen und die Küche sauber ist, sondern weil das „tägliche Einerlei“ den Großteil des Lebens ausmacht und deshalb nicht nur irgendwie erledigt werden sollte. Merz nennt den Alltag „die Lebensschule schlechthin, und keine Handlung ist zu trivial, um nicht mit Würde und Achtung, aber auch mit Lust und Spaß gemeinsam mit Kindern gestaltet zu werden“. Denn für Kinder ist Alltag (noch) keine Normalität und schon gar keine Last: Für sie ist erst einmal alles neu und faszinierend – und wert, es zu entdecken. Da kann, beschreibt es Merz, die kleinste Aufgabe zur Achtsamkeitsübung werden: Blumengießen, weil sich darin genau die liebevolle Zuwendung ausdrückt, die aus allen achtsamen Handlungen entsteht, Händewaschen, weil es eine sinnliche, wohltuende Erfahrung ist, und selbst das simple Lichtanknipsen, weil das („Es werde Licht“) schon fast biblische Bedeutung hat.

Glücklich nach dem eigenen inneren Bauplan

Die natürliche Forscher- und Entdeckerfreude von Kindern aufblühen zu lassen, hält Lienhard Valentin für ausschlaggebend, damit sie sich dem Leben mit Interesse zuwenden und, wie Maria Montessori es nannte, sich nach dem inneren, ureigensten Bauplan ihrer Seele entwickeln können – und glücklich werden. Auch deshalb ist Achtsamkeit für ihn im Umgang mit Kindern unverzichtbar. Ebenso wie Merz betont „Es ist weniger wichtig, wie oft wir uns die Zeit nehmen, mit den Kindern solche Erfahrungen zu machen. Das wache Interesse, das wir mittendrin zeigen, und die persönliche Präsenz sind entscheidender“, weiß auch der Elternberater nicht zuletzt aus eigener Erfahrung: „Man kann nicht rund um die Uhr achtsam sein. Chaos und Verrücktheiten gehören zum Elternsein dazu, wir leben ja nicht im Kloster.“ Dauergelassenheit sei nicht nötig: „Wenn ein Kind grundsätzlich spürt, dass es für seine Eltern eine Freude und keine Last ist, kommt es nicht darauf an, dass sie perfekt sind.“

Anhalten – ankommen – ausruhen – aufschreiben: Wie wird man achtsam(er)?

Die Möglichkeiten, die eigene Achtsamkeit zu schulen, sind, wie Vreni Merz für Alltagssituationen zeigt, sehr vielfältig. In Lienhard Valentins Ratgeber „Die Kunst, gelassen zu erziehen“ finden sich dazu sowohl allgemeine Übungen (sich ganz auf den Geschmack eines Lebensmittels zu konzentrieren, auf den eigenen Atem oder darauf, welche Wünsche man selbst ans Leben hat) wie auch Übungen, die konkret den achtsamen Umgang mit Kindern fördern: sich zum Beispiel zu befragen, was genau man eigentlich vom eigenen Kind weiß oder zu versuchen, es einmal auf eine völlig neue Weise zu sehen, vielleicht als ein Ton oder eine Farbe. „Gut ist, wenn man die Erfahrungen damit aufschreibt, genau wie auch alle freudigen Erlebnisse mit den Kindern“, rät der Autor. „Das hilft, ein neues Bewusstsein zu schaffen.“ In der Tat: Schon nach wenigen Übungen stellen sich viele Erinnerungen an schöne gemeinsame Situationen ein, füllt sich ein Heft mit Beobachtungen – und das wiederum führt bei Übungen, in denen man sich solche Begegnungen vorstellen soll, nicht mehr zu Schrecken, sondern zu Lächeln.

Nichts muss, vieles kann

Ein wenig Disziplin gehört schon dazu, regelmäßig zu üben. Sich unter Druck zu setzen, etwas machen zu müssen, hingegen ist kontraproduktiv: „Leistungsdenken bringt nur unnötige Strenge und Härte und damit Stress“, so Lienhard Valentin. Bei Achtsamkeit geht es nicht darum, etwas erreichen zu wollen, sondern nur zu beobachten, was ist, welche Gefühle eben grad da sind. Dafür braucht es in erster Linie ein wohlwollendes Interesse für sich selbst. Stundenlange Meditationen sind, obwohl sicher sehr effektiv, nicht notwendig und für die meisten Eltern ohnehin unrealistisch. „Achtsamkeitsübungen sind nicht an eine bestimmte Form gebunden. Sinn machen nur individuelle Lösungen, kurze Ruheinseln, die in den eigenen Alltag passen, und sei es ein Wannenbad“, meint der Elternberater. Einige wenige Minuten Üben am Tag sind für den Anfang vollkommen ausreichend. Wer merkt, wie gut solche Auszeiten tun, wie sie helfen können, bei sich anzukommen, wird die Motivation spüren, sich mehr Zeit dafür zu nehmen. Grundsätzlich, betont Valentin, ist es für Eltern – Stichwort leere Tasse – essentiell, gut für sich selbst zu sorgen: „Nur wenn es uns gut geht, können wir liebevoll mit unseren Kindern umgehen.“

Das Hirn wird positiv geschult – und lernt besser

Die Wirkung von Achtsamkeitsübungen zeigt sich auch auf körperlicher Ebene: Wer sie konstant betreibt, kann sein Hirn damit gezielt doch noch auf bessere Denkmuster umpolen, belegt unter anderem das Buch „Das Gehirn eines Buddha“ des eingangs erwähnten Rick Hanson. „Wenn man Achtsamkeit gezielt kultiviert, lassen sich schon nach etwa acht Wochen positivere Qualitäten im Hirn feststellen“, sagt Lienhard Valentin. „So können selbst Erwachsene, die als Kinder nicht genügend geeignete Zuwendung erfahren haben, mit sich in Kontakt kommen, sich von alten Mustern lösen und ihren inneren Bauplan reaktivieren und entfalten.“

Und: Achtsamkeit macht nicht nur glücklicher – es lernt sich auch besser damit. Da positive Gefühle die Hirnsysteme stimulieren, wird eine ganz andere Beziehung zum Lerngegenstand angeregt, und die wiederum motiviert dazu, sich mit etwas genauer zu beschäftigen. Kindern kann Achtsamkeit also, abgesehen von den Vorteilen für ihre Persönlichkeit, auch helfen, schulische Aufgaben gut zu bewältigen. „Gar nicht hilfreich ist hingegen zu viel Förderung. Das resultiert meist in Überforderung, was schon bei Kindern zu chronischem Stress führen kann“, gibt Valentin zu bedenken. „Ohne Hetze und Drängelei, unter Respekt ihrer eigenen Geschwindigkeit, entwickeln sich Kinder besser und stabiler.“

Interview mit Lienhard Valentin* über Achtsamkeit

Herr Valentin, warum fällt es uns oft so schwer, achtsam und gelassen mit Kindern umzugehen?

Weil unsere Ziele meist viel zu hoch gesteckt sind und auch von außen überzogene Ansprüche an uns herangetragen werden. Das schafft nur Stress und Schuldgefühle. Ich halte es auch für eine Zumutung, dass Kindererziehung heut meist ohne die Unterstützung einer Großfamilie zu bewältigen ist, dass Erziehungsverantwortung zu stark auf Einzelpersonen lastet. Außerdem übernehmen wir oft unrealistische Vorstellungen von etwas und glauben ständig, dass etwas ganz anders sein müsste, zum Beispiel was Kinder in einem bestimmten Alter alles können müssten. Es ist wichtig, dass man versucht, sich davon zu lösen.

Wie schafft man das?

Indem wir anfangen zu erforschen, welche unserer Vorstellungen, Verhaltensmuster und Konditionierungen nur Gewohnheiten sind, die wir von unseren Eltern oder der Gesellschaft übernommen haben, die uns aber eigentlich nur im Wege stehen. Gerade Kinder bringen uns dazu, solche Sachen in Frage zu stellen, weil uns nichts und niemand so an unsere Grenzen bringt wie eben unsere Kinder. Unsere enge Liebesbeziehung zu ihnen führt dazu, dass uns alles, was mit ihnen zusammenhängt, sehr persönlich mitnimmt. Darin liegt für Eltern die Chance, innerlich zu wachsen und neue Wege zu gehen, zum eigenen Wohle und zum Wohle der Kinder. Dafür müssen wir mit uns selbst in Kontakt kommen. Standardisierte Erziehungstipps nützen hier nicht viel.

„Mit Kindern wachsen e.V.“ bietet aber auch Elternseminare und –weiterbildungen an. Um was geht es da, wenn nicht um Erziehungstipps?

Eltern sind die besten Fachleute für ihr Kind, sie machen meist mehr richtig als verkehrt. Sie brauchen niemanden, der sagt, hört auf mich, ich weiß es besser, sondern Unterstützung dabei, sich selbst in die richtige Richtung zu entwickeln, und darum geht es uns. Wir wollen helfen, erste kleine Schritte aus der Tretmühle heraus zu machen und das Handwerkszeug vermitteln, wie man seinen eigenen Weg findet, die Kraft, zu sich und seinen Kindern zu stehen, zu vermeiden, ständig die eigenen Grenzen überschreiten, für sich selbst gut zu sorgen, zu lernen, Prioritäten zu setzen und Abstriche zu machen, wenn es nötig ist, oder sich Unterstützung zu suchen. Patentrezepte gibt es da nicht. Viel Humor ist allerdings immer eine große Hilfe.

Was kann noch helfen?

Ein Netzwerk, Verbindungen zu Gleichgesinnten. Zum einen zur gegenseitigen Hilfe und Unterstützung, um das Fehlen der Großfamilie aufzufangen. Zum anderen, weil es nicht einfach ist, eine neue Haltung wie die Achtsamkeit ganz für sich alleine zu kultivieren. Gemeinsam ist das einfacher. Auch in der buddhistischen Praxis wird das als ganz wesentlich angesehen.

Apropos Buddhismus: Damit kann ja nicht jeder etwas anfangen. Wie wichtig ist der religiöse Aspekt, wenn man Achtsamkeit übt?

Überhaupt nicht wichtig. Das ist völlig unabhängig von der Konfession. Ich werde oft von unterschiedlichen kirchlichen Institutionen zu Vorträgen eingeladen. Der Buddhismus ist ja ohnehin in erster Linie eine Schulung des Herzens und des Geistes. Davon profitiert jeder, dafür muss man kein Buddhist sein.

* Lienhard Valentin ist Gestaltpädagoge, Elternberater, Autor und Gründer des Vereins „Mit Kindern wachsen e.V.“

Zum Weiterlesen

  • Lienhard Valentin, Petra Kunze: Die Kunst, gelassen zu erziehen. Buddhistische Weisheit für den Familienalltag. Gräfe und Unzer. 2010. ISBN-13: 978-3833819810. 14,99 Euro.
  • Lienhard Valentin: Achtsame Eltern – glückliche Kinder. CD (mit 4 Achtsamkeitsübungen, 1 zum Ankommen, 2 zur Beziehung zum Kind, 1 zur Regeneration). Arbor. 2007. ISBN-13: 978-3936855289. 16,90 Euro.
  • Vreni Merz: Wie gut der Apfel schmeckt… Den Alltag und die kleinen Dinge achtsam erleben. Tipps für Eltern und Kinder. Kösel. 2004. ISBN-13: 978-3466366484. (nur gebraucht)
  • Jessica Wilker: Das Einmaleins der Achtsamkeit. Vom sorgsamen Umgang mit alltäglichen Gefühlen. Herder. 2011. ISBN-13: 978-3451070853. 5,00 Euro.
  • Rick Hanson, Richard Mendius: Das Gehirn eines Buddha. Die angewandte Neurowissenschaft von Glück, Liebe und Weisheit. Arbor. 2010. ISBN-13: 978-3867810258. 22,90 Euro.

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