Schütteln eines 3jährigen

Hallo!

Unser Sohn ist 3 4/4 Jahre alt. Um seinen Geburtstag herum erwarten wir ein zweites Kind. Er geht seit 1,5 Jahren in den Kindergarten, ist seit einem Monat endgültig trocken, tags wie nachts, ist fröhlich, spricht viel und gut, ist aufgeschlossen, hat einen ziemlichen Dickkopf, aber meistens bekommen wir auch das "gehandelt".

Ein Ausdruck seiner Müdigkeit ist es derzeit, sporadisch zu beißen (Eltern, Oma). So eine Phase hatte er mal mit 2,5 Jahren etwa, die ging dann wieder vorbei. Das haben wir noch auf fehlende Empathie geschoben, und darauf dass er Emotionen nicht so gut verbalisieren konnte.

Vor wenigen Tagen hat er den Papa mehrmals hintereinander gebissen. Der hat ihm bestimmt und ärgerlich gesagt dass er es lassen solle. Als der Kleine nicht gehört hat, wurde der Papa richtig wütend, hat ihn an den Armen gehalten und geschüttelt. Außer mir waren zwei Verwandte zu Besuch, die wie ich sehr entsetzt waren, zumal sie meinen Mann so laut und aggressiv nicht kennen. Ich habe gesagt er solle aufhören, und das hier niemand geschüttelt werde. In seiner Wut sagte mein Mann dann noch "dann schlage ich ihn das nächste mal eben, er muss es doch verstehen". Ich habe dazu ziemlich vehement gesagt dass hier ebenfalls niemand geschlagen werde. Er ist dann wütend aus dem Zimmer, wollte mit mir nicht mehr an dem Abend reden, was mir aber nur recht war.

Mein Fehler: ich bin nicht sofort zu unserem Sohn und habe ihn getröstet denn der hat natürlich vor sich hin geschluchzt. Aber ich dachte, es ist vielleicht auch mal ok dass er lernt sich alleine zu beruhigen (üblicherweise tröste ich ihn in solchen Situationen). Vielleicht hätte ich sofort zu ihm gemusst, ich weiß es nicht, war ebenfalls mit dieser Situation überfordert. Nach einer Weile bin ich aber hin und habe ihn getröstet und mit ihm gesprochen.

Dieses Schütteln ist schon einmal geschehen, würde sagen vor ca 1 Jahr. Damals hat mein Mann es bagatellisiert und meinte es sei gar nicht so heftig gewesen wie es für mich ausgesehen habe. Aber diesmal hatte ich ja Zeugen, die es sehr wohl heftig fanden.

Meine Frage an Sie: wie kann ich meinem Mann endgültig begreiflich machen dass ein solches Verhalten inakzeptabel und im Zweifel strafbar ist? Sowohl schütteln als auch schlagen? Im Netz finde ich zum Thema schütteln bisher nur Beiträge die sich auf Babys und das SBS beziehen. Zugegeben hab ich auch etwas Angst, dass er das mit unserm Baby tun könnte wenn er überfordert wäre, wobei ich das nicht glaube. Andererseits war unser Sohn kein sehr anstrengendes Baby, von seiner Frühgeburt (32. SSW) mal abgesehen.

Wie hätte mein Mann besser reagieren können? Und was kann ich ihm bloß empfehlen damit er sich besser im Griff hat in solchen Momenten ?

Was mich ebenfalls in diesem Zusammenhang wurmt: er erwartet dass unser Sohn von sich aus eine Entschuldigung formuliert. Tut er das nicht und ich fordere ihn dazu auf, spielt er weiter die beleidigte Leberwurst, und meint, er meine das ja nicht wirklich so (da fällt der Apfel übrigens dann nicht weit vom Stamm!), entschuldigt sich der Kleine aber von sich aus, glaubt er dieser Entschuldigung meistens ebenfalls nicht. Selber bei ihm entschuldigen wenn er zB laut wurde? Fehlanzeige.

Ich weiß nicht wie ich meinen Mann eine angemessene Toleranz und vor allem kindgerechtes, adäquates Verhalten vermitteln kann. Wann immer ich sein (Straf) Verhalten kritisiere, kommen nicht zielführende Antworten nach dem Motto "anders lernt er es ja nicht, so wie du es machst bringt es ja nichts".

Vielen Dank fürs lesen dieses langen Beitrags und eine hoffentlich hilfreiche Antwort!

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Hallo

Danke für Ihre Offenheit und Ihre Frage.

Vorab: Mein Eindruck ist, Sie haben sich, Ihr Kind – wie auch Ihren Mann gut im Blick. Das halte ich für sehr wertvoll. Auch scheint mir, dass Sie wertschätzend mir Ihrem Kind umgehen und einen Weg suchen, die Bedürfnisse Ihres Kindes gut zu sehen und zu stillen.

Jetzt gab es da diesen Vorfall, bei dem Ihr Sohn und sein Vater beide an ihre Grenzen kamen. Ich finde es gut, dass Sie in dem Moment Ihrem Mann aufgezeigt hat, dass er eine Grenze überschritten hat. Ich finde es gut, dass Sie sich so für Ihr Kind eingesetzt haben. Und, was ich ebenfalls wichtig finde, Sie haben sich danach um Ihr Kind gekümmert und es getröstet.

Zum Verständnis: Selbst mit knapp vier Jahren ist ihr Kind in meinen Augen noch klein und steht erst am Anfang, wenn wir uns das Regulieren von Gefühlen anschauen. Bis vier herrscht noch das sogenannte primäre Coping vor. Cope ist Englisch und bedeutet „bewältigen“, mit Coping sind Strategien gemeint, mit denen ein Kind (oder ein Mensch allgemein) Stress bewältigt. Im primären Coping versucht das Kind die Stress auslösende Situation zu verändern – zum Beispiel indem es davor weg läuft oder sich versteckt. Erst später (i.d.R. frühestens ab vier Jahren) beginnen Kinder das sekundäre Coping zu entwickeln. Damit ist ein bewusster Umgang mit den Gefühlen gemeint. Das Kind beginnt nun die Angelegenheit im Innen zu klären. Jetzt kann das Kind zum Beispiel ein Gefühl aushalten, ohne es direkt auszuagieren – das kommt dann manchmal später in Form eines „plötzlichen“ Wutanfalls. Für eine Übergangszeit von mehreren Jahren bleiben beide Ansätze der Stressbewältigung noch nebeneinander bestehen.

Beißen ist zwar eine aggressive Ausdrucksform, gleichzeitig ist es eine für Kinder durchaus normale Ausdrucksform. Die Gründe können sehr unterschiedlich sein. Frustration, Angst, Wut sind mögliche Ursachen. Ich würde Ihnen empfehlen einen guten Blick auf Ihr Kind zu werfen und sich zu fragen, was die Ursache sein könnte. Und was das Bedürfnis ist. Also: Was braucht Ihr Kind gerade?

Sie schreiben, dass Sie wieder schwanger sind. Erst einmal: Herzlichen Glückwunsch und alles Gute für die weitere Schwangerschaft und die Geburt! Und ja: Eine Schwangerschaft verändert alles – aber wem sage ich das, Ihnen als Mutter! Es verändert auch die Beziehungen in der Familie. Und es macht Kindern unter Umständen Sorge und Angst. Wie wird das mit dem Neuzugang werden? Auf jeden Fall wird die Zeit und die Aufmerksamkeit der Eltern nach der Geburt sich aufteilen – wenn nicht schon vorher. Das alles können Kinder spüren und darauf reagieren. Auch mit Wutanfällen.

Zur Frage der Entschuldigung: Dass sich ein Kind entschuldigen kann, setzt unglaublich viel voraus. Es muss seine Gefühle als solche wahrnehmen und benennen können. Und es muss die Situation später von einer höheren Warte aus betrachten können. Das ist sehr viel für einen Vierjährigen. Es ist nicht unmöglich, aber viel. Vor allem lernen Kinder so etwas von ihren Eltern – aber wenn der Vater selbst sich nicht entschuldigen will … wie sagten Sie so schön: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Zum Glück sind Sie ja da ;-)

Sicher ist auch: Kaum etwas bringt uns so an unsere Grenzen wie unsere Kinder.

Kinder finden unsere Schalter, unsere „Trigger-Punkte“ – kein Wunder, sie kennen nichts anderes als uns. Für uns gab es ein Leben vor dem Kind, für das Kind nicht. Für das Kind sind wir – in den ersten Jahren – das Leben schlechthin. Es kennt uns daher in- und auswendig – oft besser als wir selbst. Deswegen findet es diese Schalter, die uns hochgehen lassen. Kinder sind unser Spiegel. Deswegen sind Wutanfälle wie in der Trotzphase nicht nur für das Kind ein Lernfeld (wie gehe ich mit Gefühlen um, wie halte ich Frust aus, wie überlebe ich ein Nein etc.), sondern auch für die Eltern. Zum Beispiel könnte sich Ihr Mann fragen: Was lässt mich selbst so aggressiv gegenüber mein Kind werden, wenn mich ein Dreijähriger beißt?

Wenn Kinder durch Schlagen oder Beißen ihre Grenzen aufzeigen, dann ist es keine Option für uns Erwachsene das ebenso durch Schlagen und Beißen zu tun – oder durch Schütteln. Da bin ich ganz bei Ihnen. Sie haben richtig gehandelt, indem Sie Ihren Mann stoppten. Schon Anschreien kann Kinder emotional tief verletzten.

Zur Aussage Ihres Mannes „dann schlage ich ihn das nächste mal eben, er muss es doch verstehen“: Ich bin überzeugt Ihr Kind lernt daraus vor allem, dass es seinen Vater fürchten muss. Und wenn Kinder Ihre engsten Bezugspersonen fürchten, dann ist das wirklich schädlich für ihre Entwicklung!

Ich bin zwar kein Mediziner, ich befürchte aber, ein Erwachsener kann durch starkes Schütteln ein Kind darüber hinaus auch körperlich verletzen!

Ansonsten gilt sowieso: Körperliche Gewalt gegen Kinder ist in Deutschland verboten! Es gibt ein Gesetz, das besagt, was wir unseren Kindern antun dürfen – und was nicht! Im Bürgerlichen Gesetzbuch steht unter § 1631 (2): „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“

Zur Frage: Wie kann Ihr Mann darauf reagieren? Es gibt natürlich verschiedene Möglichkeiten, wie wir als Erwachsene mit unserer eigenen Ohnmacht und Wut umgehen können. Die Notfallreißleine ist das Time-out für den Erwachsenen (also ICH als Vater gehe, wenn ich merke, dass ICH meine Wut nicht mehr kontrollieren kann). Hilfreich ist dazu die eigenen Gefühle mir gegenüber bewusst zu machen – zum Beispiel indem ich sie benenne (z.B: „Ich merke, ich werde stinkesauer, gleich platz ich.“). Führe ich so einen inneren Dialog, dann weiß ich, wann ich die Reißleine ziehen muss.

Vorbeugend helfen eher folgende Punkte: Sich zu überlegen, wie ich in einer solchen Situation reagieren möchte. Zu schauen, was das Kind grundsätzlich braucht. Auch hilfreich sein können Entspannungsübungen und Kursen, in denen ich lerne mit meinen Kindern anders umzugehen (Tripel P, Starke Eltern, starke Kinder). Wenn ich das aber richtig verstanden habe, geht es ja darum, Ihrem Mann überhaupt erst einmal begreiflich zu machen, dass ER hier auch eine Grenze überschritten hat.

Ich möchte Sie ermutigen, dieses Gespräch mit Ihrem Mann zu suchen. Und ich glaube, Sie haben gar nicht so schlechte Karten – auch wenn es vielleicht nicht so einfach wird. So wie Sie es beschreiben, hört es sich für mich an, als würde ihr Mann seine eigene Reaktion auch nicht wirklich mögen. Schließlich ist er aus dem Zimmer gerannt und hat danach nicht mehr mit Ihnen gesprochen. Das heißt er spürt sehr wohl, wie wütend und außer sich er war! Sonst hätte er nicht so beschämt und beleidigt reagiert. Die meisten von uns Erwachsenen werden einfach äußerst ungern an Ihre „Baustellen“ erinnert.

Falls Ihr Mann eher für wissenschaftliche Erklärungen offen ist als für die emotionale Wahrnehmung seiner Frau, dann könnte ein Buch über kindliche Bindung oder über Erkenntnisse der Neurowissenschaften hilfreich sein. Ein aus meiner Sicht gut verständliches Buch ist Mindsight vom US-amerikanischen Neuropsychiater Daniel Siegel. Es beschreibt, wie unser Gehirn wächst und arbeitet, wie Bindung entsteht und wie sie gestört wird. Es wird, glaube ich, ziemlich klar, wieso wir unsere Kinder nicht schlagen oder einschüchtern sollten …

Ich hoffe Ihnen ein klein bisschen geholfen zu haben und wünschen Ihnen alles Gute für Ihr Gespräch mit Ihrem Mann. Für Ihre Schwangerschaft und Geburt ebenfalls alles erdenkliche Gute!

Liebe Grüße

Christopher End

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Hallo,

aufgrund der vielen Fragen – auch Ihrer – zum Thema Trotzphase/Autonomiephase habe ich dazu einen ausführlichen Blogpost geschrieben: http://christopher-end.de/trotzphase-und-autonomiephase/

Vielleicht gibt der Artikel Ihnen noch ein paar Argumente an die Hand.

Viele Grüße

Christopher End