Loslassen

Hilfe, mein Kind wird selbstständig

Natürlich soll das eigene Kind selbständig werden - doch gewöhnungsbedürftig ist es schon, wenn es auf einmal eigene Wege geht. Eine Mutter berichtet.

Autor: Andrea Grüten

Tschüss Mami - plötzlich ist alles anders

Junge rennen iStock mammamaart
Foto: © iStockphoto.com/ mammamaart

"Tschüss Mami. Ich gehe jetzt zum Alex spielen. Ich komm gleich wieder." Mein verdutzt bis verdatterter Blick ist meinem vierjährigen Sohnemann nicht entgangen. Was soll das heißen? Ist das der erste Schritt zur Selbstständigkeit? Das kommt mir einfach zu überraschend. Das ist unfair. Darauf war ich nicht vorbereitet. Bis jetzt haben wir doch immer alles gemeinsam gemacht. Wie soll ich denn damit umgehen? Klugen Büchern nach zu urteilen, haben wir also doch bisher alles richtig gemacht. Er ist aufgeweckt und offen, gleichzeitig aber kritisch und selbstbewußt. Ein schwacher Trost für mich. Ich stehe plötzlich solo da.

Während ich mich vergewissere, dass er auch nebenan angekommen ist - Luftlinie 50 Meter - , werden viele Erinnerungen wach. An die wunderschöne Babyzeit. Die schlaflosen Nächte lasse ich einfach mal unter den Tisch fallen. Das waren Peanuts - jedenfalls aus heutiger Sicht. Da war einfach das rosige, süß-riechende Etwas - ohne wenn und aber, ohne Diskussionen, Wutausbrüche oder Trotzreaktionen. Ach wie schön. Jetzt macht dieses Etwas mit einem Fahrrad die Umgebung unsicher und setzt seinen eigenen Kopf durch. Ach herrje, die nächsten Sorgen kündigen sich an. Hoffentlich ist alles in Ordnung. Soll ich vielleicht nochmal nebenan anrufen?

Der Spruch meiner Mutter fällt mir ein: kleine Kinder kleine Sorgen, große Kinder... Mit dem Verstand sehe ich ein, dass man kein Kind unter eine Glasglocke setzen kann. Mit dem Herzen sieht das etwas anders aus. Ich erinnere mich noch gut daran, wie sauer ich war, als meine Mutter abends an der Fensterscheibe klebte, bis ich endlich zuhause war. Schließlich war ich doch schon erwachsen. Oder? Man, wie konnte sie mich nur wie ein Baby behandeln?

So ändern sich die Zeiten: Für mich fing die Abnabelung schon mit dem Kindergarten an. Was sollte ich mit all der ungewohnten Freizeit plötzlich anfangen? Ich fieberte förmlich der Mittagszeit wieder entgegen, wenn ich meinen Kleinen endlich abholen konnte. Allmählich freundete ich mich dann aber doch mit dem Gedanken an, auch wieder etwas für mich zu tun. Egal, wie immer das auch aussehen mochte. Lernschritt Nummer eins.

Gestaltungswütige Eltern

Und während ich noch über all den Gedanken brüte, mache ich noch eine tolle Entdeckung. Ich kann und will nicht der Organisator meines Sohnes sein. Er soll weiter selbst entscheiden, mit wem und was er spielen will. Und er wird nicht, wie manch anderes Kind, einen überfüllten Terminkalender haben oder ein Opfer meiner Gestaltungswut werden. Mir sind die Eltern suspekt, die ihre Sprösslinge durch Sportstunden, Fremdsprachen-Unterricht und Geigen-Spielen schleppen. Hoffentlich bleibt's bei meinen guten Vorsätzen.

Alles in allem ist jeder Tag mit dem Knirps einfach spannend. Denn er hat ständig eine Überraschung auf Lager. Ich kann die Leute verstehen, die mehrere Kinder in die Welt gesetzt haben. Es gibt nichts Schöneres, als bei all den kleinen und großen Sorgen zu sehen, wie sie die Welt Tag für Tag neu entdecken. Davon können sich auch die Erwachsenen eine Scheibe abschneiden. Denn eines haben die Kinder uns ganz gewiss voraus: Sie leben immer in der Gegenwart. Wer das einsieht, wird sich auch nicht mehr über den Junior ärgern, wenn der morgens bis zum Abwinken herumtrödelt, während wir schon den Terminkalender im Nacken haben. Bei all den vernünftigen Überlegungen bin ich trotzdem froh, dass mein Sohn schließlich doch von seinem Freund Alex zurückkommt, um nach seiner inzwischen "gereiften" Mutter zu sehen. Mit einem freudigen "ich habe Hunger" holt er mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Es gibt also doch so etwas wie natürliche Instinkte...