Kleine Störenfriede und ihre Botschaften

Hilfe, mein Kind benimmt sich unmöglich!

Kinder haben sehr sensible Antennen für die unausgesprochenen Spannungen im Familiengefüge. Wenn sie sich scheinbar grundlos wie kleine Störenfriede verhalten, weist dies daher oft auf unbewusste Konflikte - zum Beispiel zwischen den Eltern - hin.

Autor: Felicitas Römer

Attacken aus heiterem Himmel

Junge mit Kappe panther M Stejskalova
Foto: © panthermedia, M. Stejskalova

Florian ist vier Jahre alt und ein cleveres Kerlchen. Er macht einen aufgeweckten und fröhlichen Eindruck, zeigt sich in der Kita interessiert an allem Neuen und spielt gerne mit seinen Freunden in der Bau-Ecke. Leider fiel Florian den Erzieherinnen in letzter Zeit immer häufiger dadurch auf, dass er sich unmöglich benahm. Er attackierte andere Kinder, zwickte sie von hinten, trat oder schlug, und zwar völlig unvermittelt. Nicht, dass er sich vorher mit ihnen gestritten hätte. Seine Angriffe kamen wie aus heiterem Himmel. Von der Erzieherin befragt, warum er das tue, zuckte er nur die Schultern: Er wusste es selber nicht. Die Erzieherin sprach über ihre Beobachtungen mit den Eltern, die zunächst erstaunt reagierten. Dann aber erzählten sie, dass er zu Hause auch ab und zu scheinbar grundlose Wutanfälle hatte.

Die Erzieherin riet den Eltern, Florian freundlich, aber deutlich auf sein Fehlverhalten hinzuweisen und eventuelle Konsequenzen folgen zu lassen. Das taten sie. Doch alle Ermahnungen halfen nichts, auch verordnete „Auszeiten“ und Bestrafungen zeigten keinerlei Wirkung. Alle erzieherischen Versuche, Florian von seinem ungebührlichen Verhalten abzubringen, scheiterten. Im Gegenteil: Je mehr Druck die Eltern auf den Sohn ausübten, desto heftiger wurden seine aggressiven Ausbrüche. Florians Mutter wurde zunehmend ratlos, der Vater genervt. Was – so fragten sie sich – machen wir mit unserem Sohn falsch?

Was tun, um das Verhalten abzustellen?

Florians Eltern kamen auf Anraten der Erzieherin schließlich zu einer Familienberatung. Ihr Anliegen: Die Beraterin sollte ihnen sagen, was sie tun könnten, damit Florian „sich wieder ordentlich benimmt“. Im Laufe der Beratung stellte sich rasch heraus, dass Florians Eltern erzieherisch überhaupt nichts „falsch“ machten. Sie kümmerten sich vorbildlich um ihren Sohn, gaben ihm viel Aufmerksamkeit und Zuwendung. Sie konnten klare Grenzen setzen und ihm Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. Eigentlich ging es Florian in seiner Familie gut. Woher kamen dann aber seine Aggressionen?

Auch diese Frage konnte im Laufe der Beratung geklärt werden. Florians Eltern waren zwar prima als Mutter und Vater, als Paar aber nicht sehr glücklich. Sie sprachen selten miteinander über Gefühle und wussten kaum etwas über das, was den anderen beschäftigte und bewegte. Sie stritten nicht, sondern lebten stillschweigend nebeneinander her. Es stellte sich heraus, das Florians Mutter sich schon länger mit Trennungsgedanken trug, da sie sich von ihrem Mann überhaupt nicht mehr wahrgenommen, geschweige denn geliebt fühlte. Sie war frustriert, hatte aber auch massive Angst vor einer Trennung und deren Folgen. Florians Vater hingegen war tief in Konflikte mit seiner Herkunftsfamilie verstrickt und hatte wenig Zugang zu seinen Gefühlen. Es fiel ihm schwer, seiner Frau das zu geben, was sie sich von ihm wünschte. Im Job und in der Familie fühlte er sich oft überfordert. Seine Traurigkeit über das Gefühl, er könne es seiner Frau ohnehin nie recht machen, hatte er tief in sich vergraben. Weder Florians Mutter noch dem Vater war bislang bewusst gewesen, wie viel Enttäuschung und verdrängte Wut aufeinander sie in sich trugen. Nach einigen intensiven Sitzungen trennten sich die beiden vorübergehend in gegenseitigem Einvernehmen. Sie wollten sich eine Auszeit voneinander nehmen, um sich über ihre jeweiligen Wünsche und Bedürfnisse klar zu werden.

Florians Verhalten hatte sich in der Zwischenzeit übrigens längst „normalisiert“: Er attackierte keine Kinder mehr und wurde - laut Aussage der Eltern und der Erzieherin - viel ruhiger und ausgeglichener.

Nicht das auffällige Kind ist das Problem

Was war geschehen? Florian hat - wie alle Kinder- sehr sensible Antennen für die unausgesprochenen Spannungen zwischen den Eltern. Er spürte, dass zwischen ihnen irgendetwas nicht stimmte, ohne es benennen zu können. So übernahm er unbewusst ihre unterdrückten Aggressionen und machte mit seinem Verhalten deutlich, dass etwas in der Familie schief lief. Kaum hatten die Eltern begonnen, ihre unterdrückte Wut und Enttäuschung zu spüren und zu besprechen, konnte Florian sein vermeintlich aggressives Verhalten loslassen.

Als auffällig bezeichnete Kinder werden oft als Störenfriede empfunden, die die Familienharmonie bedrohen oder gar zerstören. In der systemischen Familientherapie geht man aber davon aus, dass das auffällige Kind nicht das tatsächliche Problem der Familie ist, sondern dass es lediglich durch sein Verhalten auf andere, unterdrückte Konflikte hinweist. Es übernimmt vielmehr als „Symptomträger“ Gefühle, die andere Familienmitglieder nicht wahrnehmen wollen oder können.

Warum "Störenfriede" Eltern einen Gefallen tun

So übernehmen sie eine wichtige Funktion innerhalb der Familie, ziehen aber meistens leider nur Wut und Unverständnis auf sich. Wird das Kind immer nur für sein Verhalten gescholten und gemaßregelt, ändert sich an der grundlegenden familiären Situation natürlich nichts. Gerät das „auffällige“ Kind dann zunehmend in die Position des Sündenbocks, muss es schließlich immer heftigere Symptome zeigen, um auf das Problem hinter dem Problem aufmerksam zu machen. Es ist also immer sinnvoll, sich zu fragen, auf welchen schwelenden innerfamiliären Konflikt ein „auffälliges“ Kind möglicherweise hinweisen will. Da dies allein oft schwer zu bewerkstelligen ist, kann der Blick eines neutralen Dritten hier hilfreich sein.

Manchmal deutet problematisches Verhalten des Kindes auch auf unverarbeitete Konflikte eines Elternteils hin, so wie das bei Frau B. der Fall war. Sie meldete sich bei einer Beratungsstelle, da sie sich große Sorgen um ihren 15-jährigen Sohn machte. Schon seit zwei Jahren schwänzte er immer wieder für längere Zeit die Schule und machte insgesamt einen sehr deprimierten Eindruck. Frau B. zeigte sehr viel Verständnis für ihn und seine „schwierige Situation“, er habe es schon als kleines Kind nicht leicht gehabt. Kurz nach seiner Geburt starb nämlich seine Schwester bei einem Unfall. Frau B. hatte stets ein schlechtes Gewissen ihrem Sohn gegenüber, da die Freude über seine Geburt von der Trauer um die Tochter überschattet war und sie sich emotional nicht richtig um ihren Sohn kümmern konnte. So fühlte sie sich bis heute schuldig an allem, was ihm nicht gelang, ihn traurig machte, ihn belastete. Als sie im Rahmen einer Therapie ihre Schuldgefühle aufarbeitete, konnte sie erkennen, dass sie sich immer gut um ihren Sohn gekümmert hatte und entwickelte ein tiefes Verständnis für sich und ihre damals so schwierige Situation. So konnte sie auch ihren Sohn wieder besser als eigene Persönlichkeit wahrnehmen. Kurze Zeit später ging er wieder regelmäßig zur Schule, begann Gitarre zu spielen und konnte sein Leben nun wieder besser genießen. Frau B.s Sohn hatte durch sein rebellisches und depressives Verhalten seine Mutter dazu gebracht, ihre eigenen Konflikte zu bearbeiten.

Der Sinn scheinbar sinnlosen Verhaltens

Am Anfang einer Beratung fällt es vielen Eltern schwer zu akzeptieren, dass die kleinen Störenfriede ihnen eigentlich einen großen Gefallen tun: Indem sie nämlich dafür sorgen, dass das Familiensystem sich um eine Lösung für seine grundlegenden Konflikte bemüht. So betrachtet, ist die Auffälligkeit des Kindes natürlich auch ein erster Schritt zur Problemlösung.

Familientherapeuten betrachten problematisches kindliches Verhalten nie losgelöst von dem Verhalten und den Gefühlen anderer Familienmitglieder. Und so bekommt das vorher sinnlos erscheinende Verhalten des Kindes einen tieferen Sinn. Eltern verstehen nun sich selbst und ihre Kinder besser. Manche sind im Nachhinein ihren kleinen Nervensägen sogar dankbar dafür, dass sie von ihnen sozusagen genötigt wurden, sich mit ihren eigenen Problemen zu beschäftigen. So ging es auch Melinas Eltern.

Melina war zehn Jahre alt und zeichnete sich unter anderem dadurch aus, dass sie hin und wieder in einer Drogerie etwas „mitgehen“ ließ. Mehrfach wurde sie bereits dabei erwischt, sogar die Polizei wurde zu Hause schon vorstellig. Die Eltern waren sauer und fühlten sich hilflos. Hatten sie bei der Erziehung versagt? Reden, Schimpfen, Drohen, Hausarrest: Keine der Erziehungsmaßnahmen hatte verhindern können, dass Melina immer wieder mit unbezahlten Kosmetikartikeln nach Hause kam.

Schließlich fand sich die Familie bei einer Beratungsstelle ein, und zwar mit der Frage, wie sie das Klauen ihrer Tochter endlich unterbinden konnte. In einer ersten Sitzung wurde Melina gefragt, was denn passiere, wenn sie etwas mitgehen ließe. Zur Überraschung ihrer Eltern sagte sie, Mutter und Vater sprächen dann mal miteinander, ohne zu schreien, und sie seien dann auch mal einer Meinung, was sonst nie der Fall sei. Ob sie das gut fände? Ja, weil dann die Atmosphäre zu Hause viel angenehmer sei als sonst. Melinas bislang unbewusstes Bestreben lag also nicht darin, etwas zu besitzen, was ihr die Eltern nicht kaufen wollten, oder jemanden zu ärgern. Vielmehr wollte sie die zerstrittenen Eltern zusammenführen. Kaum hatten diese in einer Paarberatung begonnen, sich über ihre Beziehung zu unterhalten, hörte Melina mit dem Stehlen auf. Ihr unbewusster Hilferuf war endlich erhört worden.

Tipps und Infos

Mehr Informationen über systemische Familientherapie finden Sie auf den Internetseiten der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie www.familientherapie.org Auch können Sie hier mithilfe einer Therapeutensuchmaschine einen Berater in Ihrer Nähe finden. Auch auf der Seite www.netzwerk-familientherapie.de finden Sie Therapeuten, die ihre jeweiligen Arbeitsschwerpunkte vorstellen.

Obwohl die Wirksamkeit der Familientherapie mittlerweile auch wissenschaftlich nachgewiesen werden konnte, übernehmen die Krankenkassen die Kosten dafür leider nicht. Manchmal arbeiten aber auch bei kirchlichen und sozialen Einrichtungen Berater mit entsprechenden Qualifikationen, etwa bei der Diakonie oder Caritas. Hier lohnt es sich manchmal nachzufragen.

Buchtipp:

Michael Wirsching: „Paar- und Familientherapie: Grundlagen, Methoden, Ziele“; C.H. Beck Verlag, 7,90 Euro: Kleine, kompakte und gut zu lesende Einführung in die Familientherapie.