Auch ein "Sonnenschein" kann traurig sein

Achtung, braves Kind!

Auffällige und laute Kinder ziehen mehr Aufmerksamkeit auf sich als stille und „artige“. Das ist zu Hause und auch in der Schule so und birgt die Gefahr, dass Eltern und Lehrer das brave Kind aus dem Blick verlieren. Ein Plädoyer, auch unauffälligen Kindern bewusst Aufmerksamkeit zu schenken.

Autor: Felicitas Römer

Kinder suchen sich ihre Rolle im Familiengefüge

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Foto: © iStock, Zuberka

Max ist neun Jahre alt und ein cleveres, aber anstrengendes Kerlchen. Er ist bekannt für seine witzigen Sprüche, aber auch für legendäre Wutausbrüche. Max hat Ärger in der Schule, weil er den Unterricht stört, sich schlecht konzentrieren kann und oft Streit anfängt. Und auch zu Hause bringt er gerne alles durcheinander, angefangen vom  Kinderzimmer bis hin zum Zeitplan der Familie. Frau und Herr M. lieben ihren Sohn, sind aber mit den Nerven am Ende. Weil sie nicht mehr weiter wissen und auch die Lehrerin sich schon mehrfach über Max und sein Verhalten „beschwert“ hat, suchen sie eine Beratung auf. Der Therapeut bittet darum, auch die Schwester von Max mitzubringen. Die Eltern wundern sich darüber, denn es gehe ja schließlich um Max und nicht um seine Schwester. Trotzdem erscheinen sie zu viert zum Erstgespräch.

Max rutscht wie erwartet unruhig auf seinem Platz hin und her, während seine siebenjährige Schwester artig auf ihrem Stuhl sitzt, die dünnen Beinchen adrett übereinandergeschlagen. Es zeigt sich, dass Max‘ Schwester Lisa das genaue Gegenteil ihres Bruders zu sein scheint: Sie ist sehr gut in der Schule, ehrgeizig und spielt fleißig Geige. Meistens sei sie ausgesprochen fröhlich. Sie sei „pflegeleicht“, sagt die Mutter lächelnd. Und es schwingt eine Portion Stolz in ihrer Stimme mit. Auch der Vater sagt: „Mit ihr gibt es nie Probleme. Sie ist eben unser Sonnenschein.“ Lisa lächelt verlegen. Max schaut genervt an die Decke.

Kinder kennen die Belastbarkeit der Eltern

Diese Situation ist für Familientherapeuten ein Klassiker. Während das eine Kind als permanenter „trouble-maker“ gilt, wird das andere als besonders brav beschrieben. Und das natürlich nicht zu Unrecht. Tatsächlich sucht sich jedes Kind in der Familie eine Rolle, über die es sich die Zuneigung der Eltern dauerhaft sichern kann. Da die Rolle des „Chaoten“ ja schon von Max besetzt ist, bleibt Lisa nur noch die Möglichkeit, durch permanentes Wohlgefallen die Sympathie der Eltern auf ihre Seite zu ziehen.

Hinzu kommt das Bestreben vieler sensibler Kinder, ihre Eltern schonen zu wollen. Man hört von ihnen dann Sätze wie: „Mama und Papa haben schon so viel Stress mit XY, da kann ich nicht auch noch Ärger machen.“ Kinder spüren sehr genau, wann die Grenze der Belastbarkeit ihrer Eltern erreicht ist und tun dann intuitiv das Richtige: Sie werden pflegeleicht. Damit entlasten sie nicht nur die Eltern, sondern stabilisieren auch das Familiensystem. Damit die Balance innerhalb der Familie nicht gefährdet wird, gleicht Lisa beispielsweise Max‘ „Auffälligkeiten“ durch eine Art der Überanpassung wieder aus.

Gefühle zu unterdrücken ist nicht gesund

Insofern ist Lisas Verhalten durchaus konstruktiv. Es stellt sich aber die Frage, wie es ihr in dieser Rolle gehen mag. Manchmal äußern solche „lieben“ Kinder, dass es anstrengend sei, immer brav und fleißig zu sein und „Mama und Papa froh machen zu müssen.“ Dass diese Kinder ihr „Bravsein“ gelegentlich als anstrengend erleben, liegt daran, dass sie früh gelernt haben, natürliche Impulse von Wut oder Aggression, aber auch alle Anflüge von  Traurigkeit dauerhaft unterdrücken zu müssen. Immer gut und reibungslos funktionieren zu müssen, ist für Kinder - und übrigens auch für Erwachsene - ein wahrer Kraftakt, der nicht selten im Burn-Out endet.

Es ist unvermeidlich, dass sich Kinder die passenden Nischen innerhalb der Familie suchen. Je flexibler Familien mit diesen Rollen umgehen können, desto besser ist das für das einzelne Kind: Wer nicht nur auf die Rolle des „Braven“, der „Klugen“ oder „Störenfriedes“ festgenagelt wird, kann viel mehr Facetten seines Charakters kennen lernen, als jemand, der sich ständig nur in einer festgelegten Rolle wiederfindet. 

Oft erst im Rückblick sichtbar: Was Kinder für ihre Eltern leisten

Wenn Kinder allerdings schon sehr früh auf die Rolle des „fröhlichen Sonnenscheins" abonniert sind, kommt ihnen kaum in den Sinn, dass es vielleicht auch anders sein könnte. Solche extrem angepassten Kinder brechen dann oft in der  Pubertät heftig aus dieser Rolle aus. Für viele Eltern kommt das dann „wie aus heiterem Himmel". Manche überangepasste Kinder entwickeln später sogar psychosomatische Beschwerden. Oft wird ohnehin erst im Rückblick offenbar, was Kinder für ihre Eltern „erledigen", etwa in psychotherapeutischen Settings.

Viele Erwachsene realisieren erst im Nachhinein, was sie als Kinder alles getan (oder gelassen) haben, um ihre Eltern zu entlasten oder glücklich zu machen. So erinnert sich Robert (46): „Ich war Muttis Liebling. Nachdem mein Vater sie verlassen hatte, hatte ich ständig das Gefühl, sie emotional stützen zu müssen. Widerworte geben ging auch nicht, weil sie das traurig gemacht hätte. So war ich also ein durch und durch braver Junge, der nie opponiert hat. Auch heute - als erwachsener Mann - fällt es mir immer noch schwer, meine Gefühle von Wut oder Ärger zu zeigen und meine Interessen zu vertreten." Und Marion (38) erzählt: „Mein Vater war sehr leistungsorientiert. Ich spürte als Kind sehr genau, dass ich seine dauerhafte Zuneigung nur bekommen konnte, wenn ich gute Noten schrieb. Das tat ich dann auch und er war stolz auf mich. Ich habe mir seine Zuneigung durch Fleiß regelrecht erkauft."

Natürlich gibt es auch „pflegeleichte" Kinder, denen es in ihren Familien gutgeht. Vor allem dann, wenn sie die Erlaubnis bekommen, sich auch mal „daneben zu benehmen" oder eine schlechte Note zu schreiben. Erst, wenn ein Kind die Erfahrung macht, dass es nicht nur dann geliebt wird, wenn es keine Probleme macht, sondern auch dann, wenn es mal nicht die Erwartungen der Eltern erfüllt hat, kann es sich sicher und geliebt fühlen.

5 Tipps, worauf Eltern achten sollten

Ein braves Kind ist immer mehr als nur ein braves Kind. 

1. Nehmen Sie die geschwisterliche Rollenverteilung innerhalb Ihrer Familie unter die Lupe

Überlegen Sie:

  • Wer übernimmt welche Rolle?
  • Inwiefern profitiert das Kind von dieser Rolle?
  • Und was könnten die Nachteile dieser Rolle sein?

Typische Rollen sind z.B.:

  • Pflegeleichtes Kind, Sonnenschein: erfüllt stets die Erwartungen der Eltern und bemüht sich, immer gut gelaunt zu sein.
  • Problemkind, Sündenbock: ist oft wütend, aggressiv, vorwurfsvoll.
  • Intellektueller, „kleiner Professor“: ist ehrgeizig und leistungsorientiert.
  • Clown, Entertainer der Familie: ist humorvoll, sprachkreativ und will gute Stimmung verbreiten.
  • Sittenwächter,  Moralapostel: hat hohe moralische Ansprüche, fordert Gerechtigkeit ein, mischt sich ein.
  • Helfer, Vermittler, Diplomat: ist verantwortungsvoll, hilfsbereit und vermittelt bei Konflikten.
  • Außenseiter der Familie, “schwarzes Schaf“: zieht sich aus der  Familie zurück, grenzt sich ab.
  • Rebell: ist provokativ und rebelliert gegen die herrschenden Normen in der Familie.
  • Schwaches Kind, Opfer: ist schüchtern, kränklich, weinerlich und fordert Schonung und Mitgefühl.

2. Geben Sie Ihrem „braven Kind“ innerlich bewusst die Erlaubnis, aus seiner Rolle herausfallen zu dürfen

Wenn Ihnen das schwer fällt, überlegen Sie sich:

  • Was würde passieren, wenn Ihr Kind nicht mehr immer nur friedlich wäre? Was würde sich in der Familie verändern?
  • Würden Sie sich vielleicht inkompetent fühlen? Hätten Sie das Gefühl, etwas in der Erziehung falsch gemacht zu haben?
  • Hätten Sie Sorge, dass es dem Kind nicht gut geht? Was wäre daran schlimm oder bedrohlich?

3. Vermeiden Sie Festschreibungen und Verallgemeinerungen

„Lena ist eine Nervensäge.“ Oder „Lukas ist ein ganz Lieber.“ Kein Mensch ist immer eine Nervensäge, und niemand kann ausschließlich lieb sein. Je mehr Facetten Sie an Ihrem Kind wahrnehmen, desto mehr wird es sich gesehen fühlen und seine Persönlichkeit entfalten können. Je differenzierter Sie Ihr Kind betrachten können und je mehr Sie auch diejenigen Eigenschaften an ihm wahrnehmen, die sie nicht so besonders mögen, desto besser!

4. Prüfen Sie Ihre Erwartungshaltung

Überlegen Sie, an welches Kind Sie welche Erwartungen stellen. Prüfen Sie, inwiefern diese Erwartungen mit dem üblichen Verhalten des Kindes zusammenpassen. Könnte Ihre Erwartungshaltung etwas damit zu tun haben, wie sich Ihre Kinder verhalten? Was würde passieren, wenn Sie Ihre Erwartungshaltung verändern würden?

5. Werfen Sie einen genaueren Blick auf Ihr braves Kind:

  • Welche Aspekte seiner Persönlichkeit übersehen Sie im Alltag vielleicht manchmal?
  • In welchen Situationen verhält es sich anders als üblich, also nicht so lieb und brav wie sonst? Welche Gefühle löst das bei Ihnen aus?
  • Hat Ihr braves Kind neben einem „auffälligen“ dominanten, temperamentvollen oder gar kranken Geschwisterkind womöglich zu wenig Platz innerhalb der Familie? Wie könnten Sie das ändern?

 

Nachtrag: Wie geht es Max und Lisa?

Im Rahmen der Familienberatung mit Max' Familie zeigte sich, dass Lisa auf Max wütend war, weil er so oft die Energie und Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zog und für schlechte Stimmung sorgte. Max hingegen war wütend auf Lisa, weil ihr offensichtlich alles spielend gelang und sie das Lieblingskind der Eltern zu sein schien. Indem die Familie diesen schwelenden, bislang nie angesprochenen Geschwisterkonflikt bearbeitete, beruhigte sich die Situation: Lisa lernte, ihre Wut und ihren Ärger zu zeigen, und Max hatte es bald nicht mehr nötig, ständig den „bad guy" zu mimen. Er benahm sich hinfort weniger auffällig und das Familienleben wurde für alle wieder leichter.