Interview über Schreikinder

Wenn Babys keine Ruhe finden

Alle Babys schreien. Manche mehr, manche weniger. Wann aber bezeichnet man ein Baby als Schreikind? Und was können Eltern tun? Ein Interview mit der Diplom-Psychologin Frauke Ostmann von der Beratungsstelle "Frühe Hilfen" in Karlsruhe.

Autor: Monika Maruschka

Was ist ein Schreikind?

Schreibabys: Baby weint
Foto: © iStock, damircudic

Alle Babys schreien. Das ist gut so, denn die kleinen Menschen haben keine andere Möglichkeit ihren Eltern mitzuteilen: "Tu etwas, mir geht es nicht gut". In den meisten Fällen tun die Eltern dann genau das Richtige: Sie trösten, füttern oder wiegen in den Schlaf – je nachdem, was ihr Kind braucht – und es beruhigt sich. Doch die sogenannten Schreikinder sind anders. Sie schreien oft mehrere Stunden am Stück, ohne dass ihre Eltern einen Grund dafür erkennen können. Auch sie wollen etwas tun, damit es ihrem Kind wieder gut geht, sind aber rat- und hilflos. Die Diplom-Psychologin Frauke Ostmann leitet seit 2002 die Beratungsstelle "Frühe Hilfen" in Karlsruhe und arbeitet dort mit Eltern, die Unterstützung im Umgang mit ihren Babys suchen. Ein urbia-Interview:

Wann wird ein Baby überhaupt als Schreikind bezeichnet?

Rein wissenschaftlich gesehen gibt es natürlich Kriterien: Schreit ein Kind drei Stunden an drei Tagen pro Woche über einen Zeitraum von drei Wochen, so bezeichnet man es als Schreikind. Für meine Arbeit mit den betroffenen Eltern spielt das aber keine Rolle. Hier ist wichtiger, dass das anhaltende Schreien des Kindes von den Eltern als Belastung empfunden wird – egal ob eine halbe oder acht Stunden täglich. Ich kann die Eltern ja nicht wegschicken und sagen: "Ihr Kind ist kein Schreikind". Wichtig ist es, die Gefühle der Eltern ernst zu nehmen mit ihnen gemeinsam zu schauen, was man verändern kann, um den Alltag für alle zu verbessern.

Tritt das vermehrte Schreien gleich nach der Geburt auf?

Ob ein Kind Schwierigkeiten mit dem Start ins Leben hat, zeigt sich in den ersten zwei bis drei Wochen nach dem errechneten Geburtstermin. Nach sechs Wochen ist das Schreien am ausgeprägtesten. Bei den meisten Kindern ist es mit drei, vier Monaten vorbei, das Schreien wird langsam immer weniger. Wir sprechen hier allerdings nicht über Kinder, bei denen das Schreien körperliche Ursachen wie Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Reflux oder orthopädische Probleme hat.

Sie sagen, die Kinder haben "Schwierigkeiten mit dem Start ins Leben". Ist das der Grund, warum manche Kinder so viel mehr schreien als andere?

So kann man das gut umschreiben. Im Fachjargon spricht man von einer 'Störung der Verhaltensregulation': Das Kind schafft es nicht, sich selbst zu regulieren, z.B. sich durch Nuckeln am Fäustchen zu beruhigen oder den Blick abzuwenden, wenn es genug Reize aufgenommen hat. Auf die daraus folgende Überreizung reagiert es mit Schreien. Diesen Kindern fällt es zunächst schwerer, die Anforderungen des Lebens zu meistern. Zu diesen gehören auch die Verdauung - wie die sogenannten Drei-Monats-Koliken -, oder der Wechsel zwischen Wachsein und Schlafen. Je nach Temperament, Belastungen in der Schwangerschaft oder während der Geburt oder anderen Stressfaktoren, gelingt diese Anpassung manchen Babys nicht so schnell und nicht ohne Hilfe. Wenn die Eltern verstehen, was bei ihrem Kind los ist, ist das oftmals schon entlastend. Allein diese Erklärung hilft schon, den Druck aus der Situation zu nehmen. Der Stress der Eltern überträgt sich schließlich unmittelbar auf das Kind.

Um dem Kind zu helfen, muss man also die Eltern unterstützen?

Ja, denn wenn die Eltern bei mir Hilfe suchen, ist die Situation bereits für alle zur Belastung geworden. Dem Kind geht es offensichtlich schlecht und den Eltern dann auch. Sie fühlen sich hilflos und das Schreien zehrt an den Nerven.

Und wie sieht Ihre Hilfe für die Eltern konkret aus?

Ich erarbeite mit jedem Paar individuelle Lösungen für seine Situation. Wie gehen sie am besten mit dem Schreien um? Oft hilft die Vorstellung, dass das Kind schreien darf, weil etwas raus muss und die Eltern es dabei begleiten. Dann ist es schon besser auszuhalten. Außerdem ist es wichtig, Hilfe von außen zu organisieren. Eine Stunde Pause, in der Großeltern oder Freunde auf das Kind aufpassen, kann schon Wunder wirken. Vielleicht kann man sich eine Putz- oder Haushaltshilfe leisten. Die Eltern müssen erkennen, dass es genauso wichtig ist, dass es ihnen gut geht, wenn sie ihrem Kind helfen wollen. Was Müttern und Vätern guttut ist aber verschieden. Ich darf mit meinen Vorschlägen nicht noch zusätzlichen Stress auslösen.

Oft hilft eine Verminderung der Reize

Trotzdem gibt es für die Eltern dieser Kinder doch sicher allgemeine Maßnahmen, die helfen können das Baby zu beruhigen?

Natürlich. Es gibt zwei Dinge, die verändert werden sollten. Das eine ist der Schlafrhythmus, das andere sind die Reize, denen das Kind ausgesetzt ist: Das Kind sollte mit möglichst wenig Eindrücken konfrontiert werden. Dazu gehört zum Beispiel, dass man nicht stundenlang auf deinem Pezziball hüpft oder oft neues Spielzeug anbietet. Die Kinder werden dadurch zwar kurzfristig abgelenkt, langfristig ist das aber zu unruhig. Ich empfehle, die Haltung des Säuglings nicht oft zu ändern. Äußere Reize wie Radio oder Fernsehen stören auch. Aber hier gilt wieder: Es muss für die Eltern machbar sein. Ist das Schreien für eine Mutter entspannter auszuhalten, wenn sie dabei Fernsehen kann, ist das natürlich nicht ideal, aber ok. Eine entspannte Mutter ist immer noch die beste "Medizin".

Und was ist beim Thema Schlafen zu beachten?

Die Kinder, über die wir sprechen, sind oft schwieriger zu 'lesen' als andere. Sie wirken nicht müde, weil ihnen ja die Möglichkeit fehlt, von selbst 'abzuschalten'. Deshalb ist es wichtig, gerade die ganz Kleinen in den ersten sechs Wochen nach einer Stunde - wenn sie älter sind nach eineinhalb bis zwei Stunden - wieder zum Schlafen zu bringen. Dabei ist dann egal wie - ob auf Papas Bauch, im Kinderwagen oder im Tragetuch. Es muss für die Eltern machbar und angenehm sein. Viele Eltern haben Angst, ihren Kindern etwas Falsches anzugewöhnen. Das ist in diesem Alter aber gar nicht möglich. Viel wichtiger ist es, dass die Kleinen zur Ruhe kommen. Dabei hilft auch, jeden Tag den gleichen Rhythmus einzuhalten.

Wie schnell können Sie bei ihrer Arbeit eine Besserung bei den Familien beobachten?

Vielen Eltern genügen schon ein bis zwei Termine: Die Informationen, warum ihr Kind so viel weint, das Verständnis für ihre Belastung und Ansatzpunkte, was sie konkret tun können, reichen dann. Wenn es in der Familie weitere Probleme gibt oder wenn es den Eltern schwerfällt, trotz des vielen Schreiens eine positive Beziehung zum Baby aufzubauen und mit der aktuellen Situation klarzukommen, dauert die Beratung länger. Durch die gemeinsame Arbeit wachsen die Eltern sprichwörtlich mit ihren Aufgaben. Ich versuche sie darin zu unterstützen, mehr auf ihr eigenes Gefühl zu achten. Das eigene Gefühl ist ein besserer Ratgeber als Tipps von anderen oder Bücher. Diese verunsichern meist nur zusätzlich. Im Erziehungsratgeber steht: Lieber Tragetuch als Kinderwagen, für die Schwiegermutter gehört das Kind ins eigene Zimmer, nicht ins Elternbett... Dabei haben es Eltern eigentlich sehr gut im Gefühl, was gut ist für ihr Kind. Jede Lösung ist dann o.k., wenn sie für die jeweilige Familie passt und dem Kind nicht schadet.

Sind die sogenannten "Schreikinder" schon lange bekannt, oder handelt es sich dabei um ein eher neues Phänomen?

Die erste „Schreibabyambulanz“ wurde 1991 in München von Mechthild Papusek nach jahrelanger Forschungsarbeit über Säuglinge gegründet. Interessant ist, dass es das exzessive Schreien nur in den westlich industrialisierten Ländern gibt. Dabei sind je nach Literatur zehn bis dreißig Prozent der Kinder Schreikinder. Als mögliche Erklärung gelten die Lebensbedingungen von Schwangeren und jungen Familien in unserer Gesellschaft: Für Schwangere und Wochenbettlerinnen gibt es keinen Schonraum, sie selbst wollen häufig so lange wie möglich und nach der Geburt sofort wieder alles tun können - wie arbeiten, Haushalt führen usw. Außerdem sind bei uns viele Mütter mit ihren Kindern den ganzen Tag alleine. In Kulturen, in die Frauen unterstützt werden, in denen die Babys viel getragen werden, kommt das übermäßige Schreien nicht vor. Die betroffenen Mütter bei uns sind oft in einem Teufelskreis gefangen. Weil die Kinder schreien, meiden sie Gruppen wie PEKiP oder Treffen mit anderen Müttern und isolieren sich so noch mehr.

Verständlicherweise wollen sie sich nicht noch zusätzlichem Druck aussetzen...

...ja, sie leiden natürlich besonders unter der Konkurrenz, die oft zwischen Eltern herrscht. Dabei würden die Betroffenen besonders vom Austausch mit anderen profitieren. Außerdem haben sie – vor allem beim ersten Kind – noch keine Erfolgserlebnisse als Eltern gemacht. Sie haben noch nicht die Sicherheit gute Eltern zu sein. Ich kann nur allen, die sich im Umgang mit ihrem Kind hilflos fühlen, darin bestärken, sich an eine Beratungsstelle zu wenden. Es lohnt sich.

Weitere Infos:

Beratungsstellen für betroffene Eltern gibt es inzwischen in fast jeder größeren Stadt. Diese sind entweder als Schreiambulanzen an Krankenhäuser angegliedert, oder – wie im Beispiel Karlsruhe – Teil der Erziehungsberatung. Adressen erhält man über die Homepage der GAIMH (s.u.), Psychologische Beratungsstellen, Kinderzentren, Hebammen, Kinderärzte oder Jugendämter.

Buchtipp:
"Unser Baby schreit Tag und Nacht. Hilfe für erschöpfte Eltern" von Maurie Fries

Linktipp:
Gesellschaft für seelische Gesundheit in der frühen Kindheit (GAIMH e.V.): http://www.gaimh.de