Was die Kleinsten alles mitbringen

Unsere Babys - kleine Urmenschen?

In Neugeborenen schlummern Jahrmillionen: Im Stammhirn sind Instinkte und Reflexe aus Urzeiten zu Hause, die auch heute noch für das Kind lebenswichtig sind und Eltern zum Staunen bringen. Unsere Babys sind also so etwas wie kleine Urmenschen.

Autor: Gabriele Möller

In Neugeborenen schlummern Jahrmillionen

Baby auf Fell Fellkleid iStock vachira
Foto: © iStockphoto.com / vachira

Sie sind gerade ein paar Stunden, Tage oder Wochen alt. Und doch ist etwas in unseren kleinsten und jüngsten Erdenbewohnern bereits älter als die Menschheit: Das Stammhirn, wo Instinkte und Reflexe aus Urzeiten zu Hause sind. Hier sitzt quasi das, was uns unsere Vorfahren vom Beginn des Menschseins und sogar davor hinterlassen haben. Der jüngere Teil des Gehirns (Großhirnrinde) ist dagegen bei Neugeborenen noch unreif. Im Stammhirn und Rückenmark aber sitzen ein paar faszinierende Fähigkeiten, mit denen uns das Neugeborene oft beeindruckt. Erbstücke, die zum Teil eher seltsam wirken und Verhaltensweisen hervorbringen, die an Affenbabys erinnern. Aber auch Instinkte und Reflexe, die heute noch lebenswichtig für das Kind sind. Und auch noch ein paar andere Tricks hat Mutter Natur auf Lager, um dem Neugeborenen einen guten Start ins Leben zu ermöglichen.

Unsere Vorfahren waren Nestflüchter

Wenige Wochen alte Säuglinge können noch schwimmen: Legt man sie bäuchlings in eine Wanne und hält nur das Kinn fest, paddeln sie koordiniert mit Händen und Beinen – wie vierfüßige und schwimmfähige Säugetiere. Auch eine Vorstufe des Krabbelns beherrscht jedes gesunde Kind für einige Zeit nach der Geburt: Legt man es auf den Bauch, macht es bei leichtem Druck gegen Knie oder Füße regelmäßige Krabbelbewegungen. Und sogar die Fähigkeit zu Laufen ist von Alters her offenbar zunächst (!) angeboren gewesen: Fasst man ein Neugeborenes unter den Armen und stellt es auf eine Unterlage, macht es Laufbewegungen. Natürlich kann es nicht wirklich krabbeln oder laufen. Denn diese Verhaltensweisen sind lediglich noch Reste aus einer Zeit, als unsere Kinder bzw. die Kinder unserer affenähnlichen Vorfahren noch keine sogenannten Nesthocker waren, sondern Nestflüchter sein mussten – also gleich nach der Geburt weitgehend selbstständig krabbeln, laufen und klettern konnten.

Frühgeborene können klettern wie Affen

Besonders alt ist der Kletterreflex: Lediglich noch bei Frühgeborenen (sog. Siebenmonatskindern) findet sich diese Fähigkeit, bei der Hangelbewegungen ausgeführt werden: Hängt man sie mit Händen und Zehen an eine Schnur (bitte nicht ausprobieren), führen sie wechselnde und wohlkoordinierte Arm und Handbewegungen aus. Bei nicht-frühgeborenen Säuglingen ist lediglich noch der Greifreflex vorhanden, den fast jeder schon bei seinem Kind ausprobiert hat: Legt man dem Baby seinen Finger in die offene Hand (oder auf die Fußsohle), greift es reflexartig zu – ursprünglich wohl auch, um sich an seiner stark behaarten Mutter festzuhalten, wie es viele Affenbabys heute noch machen. Auch macht es eine Bewegung des Armeöffnens und Schließens, wenn es ein lautes Geräusch hört oder seine Unterlage erschüttert wird – der Rest einer raschen Flucht in die Umklammerung der herbeieilenden Mutter.
Nicht alle Reflexe aber sind entwicklungsgeschichtlich veraltet und heute überflüssig. Zum Beispiel gibt es das sogenannte gerichtete Brustsuchen des Neugeborenen, das heißt: Berührt man das Baby mit dem Finger seitlich am Mund, dreht es den Kopf automatisch in diese Richtung und greift mit dem Mund nach dem Finger, wobei es anfangs den Kopf noch leicht rhythmisch hin und her dreht. Dieses Verhalten hilft dem Baby, die Brustwarze sofort zu schnappen, wenn sie sich in der Nähe seines Mundes befindet – unbestreitbar eine sehr praktische urzeitliche Verhaltensweise. Genau wie der unmittelbar folgende Saugreflex, wenn dem Kind Brustwarze, Finger oder Schnuller in den Mund geraten.

Schlüsselreize zielen direkt ins Herz der Eltern

Babys haben aber noch viel mehr drauf, um die Zuwendung zu bekommen, die sie so dringend brauchen: Bereits recht junge Neugeborene zeigen schon Ansätze eines Lächelns. Man vermutet, dass dies noch kein echtes Lächeln ist. Sondern dass es in erster Linie dazu dient, die Zuneigung der Erwachsenen auszulösen. Und die ist für ein absolut hilfloses Wesen von elementarer Wichtigkeit. Auch das sogenannte Schreiweinen des neuen Erdlings zielt direkt ins Herz der Großen. Denn die können sich dieser energischen Aufforderung kaum entziehen und fühlen sofort einen starken inneren Drang, das kleine Wesen zu trösten, zu knuddeln oder zu füttern. Überhaupt reagieren besonders Mütter unbewusst meist richtig auf Lautäußerungen ihres Kindes, ohne dabei genau zu wissen, auf welches Signal sie jetzt eigentlich "angesprungen" sind.

Seit Urzeiten bewährt: Das Kindchenschema

Doch Mutter Natur sorgt noch mehr für ihre hilflosesten Geschöpfe. Es ist zum Beispiel keineswegs ein Zufall oder reiner Selbstzweck, dass alle Babys so niedlich sind. Hier greift ebenso einfach wie genial das sogenannte "Kindchenschema": Es bedeutet, dass alles an Babys (und Kleinkindern) rundlich ist. Wobei bestimmte Körperteile ganz anders betont werden, als bei älteren Kindern und Erwachsenen: Der Kopf ist besonders groß, das Gesicht im Verhältnis zum restlichen Kopf klein, die Stirn ist leicht vorgewölbt. Die (großen) Augen liegen unterhalb der Gesichtsmitte, die Wangen sind rund und vorspringend ("Pausbäckchen"). Das Näschen ist klein. Die Ärmchen und Beinchen sind eher kurz und dick, und auch der Rest des Körpers ist rundlich. Und last but not least: Nicht nur am sprichwörtlichen Babypopo ist die Haut des Kindes superweich, glatt und elastisch. Auch das kindliche Verhalten gehört zum Kindchenschema: Es ist tollpatschig und auf "süße" Weise unbeholfen.
All diese Merkmale, sogenannte Schlüsselreize, sprechen unsere angeborenen Instinkte massiv an: So finden wir kleine Kinder "herzig", "niedlich", "goldig", und wollen sie am liebsten andauernd berühren und knuddeln. Weswegen wir bei aller notwendigen Abgrenzung nun die alten Damen, die bei jedem Stadtbummel entzückt über unser Kind herzufallen drohen, ein kleines bisschen besser verstehen können - auch sie können der Macht des Kindchenschemas eben kaum widerstehen. Das Kindchenschema gibt es übrigens auch im Tierreich – und spricht auch dort die Menschen an: Darum finden wir kleine Häschen, Küken, Katzen- oder Hundebabys so niedlich und streicheln sie besonders gern.